Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 749

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tausches. Denn du weißt so gut wie ich, daß für den Wert jeder Ware auf dem Markte die zu ihrer Herstellung gesellschaftlich notwendige Arbeit maßgebend ist. Wenn dein Schuster dir ein Paar Stiefel bringt und dafür 20 M verlangt, weil er vier Tage lang daran arbeitete, so wirst du ihm sagen: „Solche Stiefel kriege ich aus der Fabrik schon für 12 M, denn dort wird mit Maschine das Paar in einem Tag gemacht. Ihre viertägige Arbeit war also – da es bereits üblich ist, die Stiefel maschinell zu produzieren – nicht notwendig, gesellschaftlich genommen, wenn sie auch für Sie notwendig war, weil Sie nicht mit Maschinen arbeiten. Aber ich kann dafür nichts und zahle Ihnen nur für die gesellschaftlich notwendige Arbeit, sage 12 M.“ Wenn du so beim Kauf von Stiefeln verfahren würdest, so mußt du auch mir beim Kauf meiner Ware Arbeitskraft die gesellschaftlich notwendigen Kosten ihrer Erhaltung bezahlen. Gesellschaftlich notwendig ist aber zu meinem Leben das alles, was in unserem Lande und im jetzigen Zeitalter als der gewohnte Unterhalt eines Mannes meiner Klasse gilt. Mit einem Wort, du mußt mir nicht das physiologisch notwendige Minimum, das mich knapp am Leben erhält, wie einem Tier geben, sondern das gesellschaftlich übliche Minimum, das mir meine gewohnte Lebenshaltung sichert. Dann erst hast du als ehrlicher Käufer den Wert der Ware bezahlt, sonst kaufst du unter ihrem Wert.

Wir sehen, daß der Arbeiter vom reinen Warenstandpunkt mindestens ebenso recht hat wie der Kapitalist. Aber diesen Standpunkt macht er erst mit der Zeit geltend, denn er kann ihn nur geltend machen – als gesellschaftliche Klasse, das heißt als Ganzes, als Organisation. Erst mit der Entstehung der Gewerkschaften und der Arbeiterpartei beginnt der Arbeiter den Verkauf seiner Arbeitskraft zu ihrem Wert, das heißt, seine Lebenserhaltung als soziale und kulturelle Notwendigkeit durchzusetzen. Vor dem Auftreten der Gewerkschaften im Lande jedoch und vor ihrer Geltung in jedem einzelnen Gewerbezweig ist für die Gestaltung der Löhne die Tendenz des Kapitalisten maßgebend, die Lebensmittel auf das physiologische, sozusagen tierische Minimum herabzudrücken, das heißt, die Arbeitskraft ständig unter ihrem Wert zu bezahlen. Die Zeiten der zügellosen Herrschaft des Kapitals, der noch kein Widerstand durch die Arbeiterkoalition und -organisation entgegengesetzt wird, führten zu derselben barbarischen Degradation der Arbeiterklasse in bezug auf Löhne wie in bezug auf Arbeitszeit vor der Einführung der Fabrikgesetze. Es ist ein Kreuzzug des Kapitals gegen jede Spur von Luxus, Bequemlichkeit, Behaglichkeit im Leben des Arbeiters, die er noch von den früheren Zeiten des Handwerks und der Bauernwirtschaft her gewohnt war. Es

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