Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 748

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druck des Werts der Arbeitskraft, so wird dieser Wert in Wirklichkeit durch die Menge Arbeit dargestellt, die auf die notwendigen Lebensmittel des Arbeiters verwendet wird. Aber was sind „notwendige Lebensmittel“? Abgesehen von individuellen Unterschieden zwischen einem Arbeiter und dem anderen, die keine Rolle spielen, beweist schon die verschiedene Lebenshaltung der Arbeiterklasse in verschiedenen Ländern und Zeiten, daß der Begriff „notwendige Lebensmittel“ ein sehr veränderlicher und dehnbarer ist. Der bessergestellte englische Arbeiter von heute betrachtet den täglichen Gebrauch von Beefsteaks als notwendig zum Leben, der chinesische Kuli lebt von einer Handvoll Reis. Bei der Dehnbarkeit des Begriffs der „notwendigen Lebensmittel“ entwickelt sich über die Größe des Arbeitslohnes ein ähnlicher Kampf zwischen Kapitalist und Arbeiter wie über die Länge des Arbeitstages. Der Kapitalist steht als Warenkäufer auf seinem Standpunkt, indem er erklärt: Es ist zwar ganz richtig, daß ich die Ware Arbeitskraft wie jeder ehrliche Käufer nach ihrem Wert bezahlen muß, aber was ist der Wert der Arbeitskraft? Die notwendigen Lebensmittel? Nun wohl, ich gebe meinem Arbeiter genausoviel, wie zum Leben notwendig; was aber absolut notwendig ist, um einen Menschen am Leben zu erhalten, das sagt erstens die Wissenschaft, die Physiologie, und zweitens die allgemeine Erfahrung. Und es versteht sich von selbst, daß ich genau aufs Haar dieses Minimum gebe; denn würde ich einen Pfennig mehr geben, so wäre ich nicht ein ehrlicher Käufer, sondern ein Narr, ein Philanthrop, der aus eigener Tasche demjenigen Geschenke macht, von dem er eine Ware gekauft hat; ich schenke meinem Schuster oder Zigarrenhändler auch nicht einen Pfennig und suche ihre Ware so billig wie möglich zu kaufen. Ebenso suche ich die Arbeitskraft so billig wie möglich zu kaufen, und wir sind vollkommen quitt, wenn ich meinem Arbeiter das knappste Minimum gebe, womit er sich am Leben erhalten kann. Der Kapitalist ist hier vom Standpunkte der Warenproduktion vollkommen in seinem Rechte. Aber nicht minder im Recht ist der Arbeiter, der als Warenverkäuf er entgegnet: Freilich habe ich nicht mehr zu beanspruchen als den tatsächlichen Wert meiner Ware Arbeitskraft. Aber ich verlange eben, daß du mir diesen vollen Wert auch wirklich bezahlst. Ich will also nicht mehr als die notwendigen Lebensmittel. Aber was sind notwendige Lebensmittel? Du sagst, darauf gebe Antwort die Wissenschaft der Physiologie und die Erfahrung, welche zeigen, was ein Mensch zum mindesten braucht, um am Leben erhalten zu werden. Du unterschiebst also bei dem Begriff „notwendige Lebensmittel“ die absolute, die physiologische Notwendigkeit. Dies ist aber gegen das Gesetz des Warenaus-

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