Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 745

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arbeit zuwege gebracht. In allen früheren Gesellschaftszuständen galt die Nacht als eine von Natur selbst zur Ruhe für den Menschen bestimmte Zeit.[1] Der kapitalistische Betrieb erfand, daß der Mehrwert, der nachts aus dem Arbeiter gepreßt wird, sich durch nichts unterscheidet von dem am Tage ausgepreßten, und führte die Tag- und Nachtschicht ein. Desgleichen wurde der Sonntag, der im Mittelalter von dem Zunfthandwerk in strengster Weise hochgehalten wurde, dem Mehrwerthunger des Kapitalisten geopfert und zu den übrigen Arbeitstagen geschlagen. Dazu kamen noch Dutzende von kleinen Erfindungen zur Verlängerung der Arbeitszeit: das Einnehmen der Mahlzeiten während der Arbeit ohne jede Pause, das Reinigen der Maschinen nicht während des üblichen Arbeitstages, sondern nach seiner Beendigung, das heißt während der Erholungszeit des Arbeiters usw. Diese Praxis der Kapitalisten, die in den ersten Jahrzehnten ganz frei und schrankenlos waltete, machte bald eine neue Serie von Gesetzen über den Arbeitstag nötig, diesmal nicht zur zwangsweisen Verlängerung, sondern zur Verkürzung der Arbeitszeit. Und zwar waren die ersten gesetzlichen Bestimmungen über den Maximalarbeitstag nicht sowohl durch den Druck der Arbeiter erzwungen wie durch den einfachen Erhaltungstrieb der kapitalistischen Gesellschaft. Gleich die ersten paar Jahrzehnte der unumschränkten Wirtschaft der Großindustrie haben eine so vernichtende Wirkung auf die Gesundheit und Lebenszustände der arbeitenden Volksmasse ausgeübt, eine so ungeheure Sterblichkeit, Kränklichkeit, physische Verkrüppelung, geistige Verwahrlosung, epidemische Krankheiten, militärische Untauglichkeit erzeugt, daß der Bestand selbst der Gesellschaft aufs tiefste bedroht erschien.[2] Es war klar, daß, falls dem naturwüchsigen Drang des Kapitals nach Mehrwert nicht vom Staate Zügel angelegt werden, er über kurz oder lang ganze Staaten in Riesenkirchhöfe verwandeln wird, auf denen nur Knochen der Arbeiter sichtbar wären. Aber ohne Arbeiter keine Ausbeutung der Arbeiter. Das, Kapital mußte also im eigenen Interesse, um sich für die Zukunft die Ausbeutung zu ermöglichen, der Ausbeutung in der Gegenwart einige Schranken setzen. Die Volkskraft mußte etwas geschont werden, um ihre weitere Aus-

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[1] Randnotiz R. L.: Äg. Skl.

[2] Seit der Einführung der allgemeinen militärischen Dienstpflicht verkleinert sich das mittlere Körpermaß der erwachsenen Männer und damit auch das gesetzlich vorgeschriebene Maß bei der Aushebung immer mehr. Vor der großen Revolution war das Minimum für den Infanteristen in Frankreich 165 cm, nach dem Gesetz von 1818 157 cm, seit 1852 156 cm, durchschnittlich wird in Frankreich wegen mangelnder Größe und Gebrechen über die Hälfte ausgemustert. Das Militärmaß war in Sachsen 1780 178 cm, in den sechziger Jahren nur noch 155 cm, in Preußen 157 cm. Berlin konnte 1858 sein Kontingent an Ersatzmannschaft nicht stellen, es fehlten 156 Mann. – [Fußnote im Original]