Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 744

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mäßige Arbeitszeit betrug zu Zeiten der Blüte des Handwerks etwa zehn Stunden, wobei die Mahlzeiten, die Schlafzeit, die Erholungszeit, die Sonntags- und Festtagsruhe mit aller Behaglichkeit und Umständlichkeit wahrgenommen wurden. Dem alten Handwerk mit seiner langsamen Arbeitsmethode genügte das, den beginnenden Fabrikunternehmungen nicht. Und so ist das erste, was die Kapitalisten von den Regierungen erringen, Zwangsgesetze zur Verlängerung der Arbeitszeit. Vom 14. bis Ende des Jahrhunderts sehen wir in England wie in Frankreich wie in Deutschland lauter Gesetze über den Minimalarbeitstag, das heißt Verbote an die Arbeiter und Gesellen, weniger als eine bestimmte Arbeitszeit, und zwar meistens zwölf Stunden täglich, zu arbeiten. Der Kampf mit der Faulenzerei der Arbeiter: das ist der große Ruf seit dem Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert. Seit aber die Kraft des alten Zunfthandwerks gebrochen war und das massenhafte Proletariat, ohne alle Arbeitsmittel bloß auf den Verkauf der Arbeitskraft angewiesen, andererseits die großen Manufakturen mit fieberhafter Massenproduktion entstanden waren, seit dem 18. [Jahrhundert] wendet sich das Blatt. Es beginnt eine plötzliche und so schrankenlose Aussaugung der Arbeiter jeden Alters, beider Geschlechter, daß ganze Arbeiterbevölkerungen in wenigen Jahren wie von einer Pest niedergemäht werden. Im Jahre 1863 erklärte ein Abgeordneter im englischen Parlament: „Die Baumwollindustrie zählt 90 Jahre ... In drei Generationen der englischen Race hat sie neun Generationen von Baumwollarbeitern verspeist.“[1] Und ein bürgerlicher englischer Schriftsteller, John Wade, schreibt in seinem Werke über die „Geschichte des Mittelstandes und der Arbeiterklasse“: Die Gier der Fabrikanten und ihre Grausamkeit bei der Jagd nach Gewinn waren nicht übertroffen von den Grausamkeiten der Spanier gegen die Rothäute Amerikas bei ihrer Jagd nach Gold.[2] In England wurden noch in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts in gewissen Industriezweigen, wie in der Spitzenfabrik, kleine Kinder von 9 bis 10 Jahren von 2, 3 und 4 Uhr des Morgens bis 10, 11, 12 Uhr nachts beschäftigt. In Deutschland sind die Zustände, wie sie bis vor kurzem zum Beispiel in den Quecksilberspiegelbelegereien, in der Bäckerei herrschten, wie sie noch heute in der Konfektion, in der Hausindustrie durchweg herrschen, bekannt. Erst die moderne kapitalistische Industrie hat die bis dahin ganz unbekannte Erfindung der Nacht-

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[1] Karl Marx: Das Kapital, Bd. I, S. 229. [Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 282.]. – [Fußnote im Original]

[2] Siehe Karl Marx: Das Kapital, Bd. I, S. 204. [Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 258, Fußnote 64.]. – [Fußnote im Original]