Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 743

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Wenn der Kapitalist die Ware Arbeitskraft kauft, so kauft er sie wie jede Ware, um aus ihr einen Nutzen zu ziehen. Jeder Warenkäufer sucht aus seinen Waren möglichst viel Gebrauch zu ziehen. Wenn wir zum Beispiel Stiefel kaufen, so wollen wir sie solange wie möglich tragen. Dem Käufer der Ware gehört der volle Gebrauch, der ganze Nutzen der Ware. Der Kapitalist also, der die Arbeitskraft gekauft hat, hat vom Standpunkte des Warenkaufs vollständig recht, zu verlangen, daß ihm die gekaufte Ware solange wie möglich und soviel wie möglich dient. Hat er die Arbeitskraft für eine Woche bezahlt, so gehört ihm die Woche Gebrauch, und er hat von seinem Standpunkte als Käufer das Recht, den Arbeiter womöglich siebenmal 24 Stunden pro Woche arbeiten zu lassen. Andererseits aber hat der Arbeiter als Verkäufer der Ware einen ganz umgekehrten Standpunkt. Freilich gehört dem Kapitalisten der Gebrauch der Arbeitskraft, aber dieser findet seine Grenzen in der physischen und geistigen Leistungskraft des Arbeiters. Ein Pferd kann, ohne ruiniert zu werden, nur acht Stunden tagein, tagaus arbeiten. Ein Mensch muß auch, um seine in der Arbeit verbrauchte Kraft wiederzuerlangen, eine gewisse Zeit zur Nahrungsaufnahme, Kleidung, Erholung etc. [haben]. Hat er das nicht, so wird seine Arbeitskraft nicht nur verbraucht, sondern auch vernichtet. Durch übermäßige Arbeit wird sie geschwächt und das Leben des Arbeiters verkürzt. Wenn also der Kapitalist durch schrankenlosen Gebrauch der Arbeitskraft in jeder Woche das Leben des Arbeiters um zwei Wochen verkürzt, so ist es dasselbe, als wenn er für den Lohn von einer Woche drei Wochen sich aneignen würde. Von demselben Standpunkte des Warenhandels bedeutet das also, daß der Kapitalist den Arbeiter bestiehlt. So vertreten Kapitalist und Arbeiter in bezug auf die Länge des Arbeitstages, beide auf dem Boden des Warenmarktes, zwei genau entgegengesetzte Standpunkte, und die tatsächliche Länge des Arbeitstages wird auch nur auf dem Wege des Kampfes zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse als eine Machtfrage entschieden.[1] An sich ist der Arbeitstag also an keine bestimmten Schranken gebunden; je nach der Zeit und dem Ort finden wir auch den achtstündigen, zehn-, zwölf-, vierzehn-, sechzehn-, achtzehnstündigen Arbeitstag. Und im ganzen ist es ein jahrhundertelanger Kampf um die Länge des Arbeitstages. In diesem Kampf sehen [wir] zwei wichtige Abschnitte. Der erste beginnt schon am Ausgang des Mittelalters, im 14. Jahrhundert, wo der Kapitalismus erst die ersten schüchternen Schritte macht und an dem festen Schutzpanzer des zunftlichen Regiments zu rütteln beginnt. Die normale gewohnheits-

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[1] Randnotiz R. L.: Interessen der kap. Prod. selbst?