Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 735

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die Geschicklichkeit, das Wissen des Menschen, seine Herrschaft über die Naturkräfte müssen bereits eine genügende Höhe erreicht haben, damit die Kraft eines Menschen imstande ist, nicht bloß die Lebensmittel für ihn selbst, sondern noch darüber hinaus, also eventuell für andere herstellen zu können. Diese Vollkommenheit der Werkzeuge, das Wissen, die gewisse Beherrschung der Natur werden aber erst durch lange Jahrtausende qualvoller Erfahrung der menschlichen Gesellschaft erworben. Der Abstand von den ersten plumpen Steininstrumenten und der Entdeckung des Feuers bis zu den heutigen Dampf- und Elektrizitätsmaschinen bedeutet den ganzen gesellschaftlichen Entwicklungsgang der Menschheit, eine Entwicklung, die eben nur innerhalb der Gesellschaft, durch das gesellschaftliche Zusammenleben und Zusammenarbeiten der Menschen möglich war. Jene Produktivität der Arbeit also, die der Arbeitskraft des heutigen Lohnarbeiters die angenehme Eigenschaft verleiht, Mehrarbeit zu leisten, ist nicht eine von der Natur gegebene, physiologische Besonderheit des Menschen, sondern sie ist eine gesellschaftliche Erscheinung, die Frucht einer langen Entwicklungsgeschichte. Die Mehrarbeit der Ware Arbeitskraft ist nur ein anderer Ausdruck für die Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit, die durch eines Menschen Arbeit mehrere Menschen zu erhalten vermag.

Die Produktivität der Arbeit, besonders wo sie durch glückliche Naturbedingungen schon auf primitiven Kulturstufen ermöglicht wird, führt jedoch durchaus nicht immer und überall zum Verkauf der Arbeitskraft und zu ihrer kapitalistischen Ausbeutung. Versetzen wir uns für einen Augenblick in jene begnadeten tropischen Gegenden Zentral- und Südamerikas, die nach der Entdeckung Amerikas und bis Anfang des 19. Jahrhunderts spanische Kolonien waren, jene Gegenden mit heißem Klima und fruchtbarem Boden, wo die Bananen die Hauptnahrung der Bevölkerung sind. „Ich glaube nicht“, schrieb Humboldt, „daß es auf dem Erdboden noch eine andere Pflanze gibt, die auf einem so kleinen Fleck Bodens eine so ansehnliche Masse nahrhafter Substanz hervorbringt.“[1] „Nach diesem Prinzip“, berechnet v. Humboldt, „findet man die sehr merkwürdige Tatsache, daß in einem ganz besonders fruchtbaren Land ein halber Hektar Boden, der mit Bananen von der großen Gattung (Platano arton) angebaut ist, über fünfzig Individuen nähren kann, da hingegen dieser nämliche Fleck Landes in Europa (das achte Korn angenommen) bloß 576 Kilogramm Weizenmehl, also nicht einmal Nahrung für zwei Perso-

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[1] Friedrich Alexander von Humboldt: Versuch über den politischen Zustand des Königreiches Neu-Spanien, Dritter Band, Tübingen 1812, S. 17 f.