Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 710

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Jeder von ihnen begehrt und braucht die mannigfaltigsten Produkte, kann aber seinerseits nur ein einziges Produkt dagegen bieten. Jeder könnte seine Bedürfnisse nur dann vollauf befriedigen, wenn seine Spezialware jederzeit von jedermann in der Gesellschaft begehrt, in Tausch genommen wäre. Ein kurzes Nachdenken wird Ihnen sagen, daß dies eine pure Unmöglichkeit ist. Jedermann kann nicht jederzeit gleichermaßen alle Produkte begehren. Jedermann kann nicht jederzeit, also unbegrenzt, für Stiefel und Brot und Kleider und Schlösser und Garn und Hemden und Hüte und Bartbinden usw. usw. Abnehmer sein. Ist dies aber nicht der Fall, dann können sich nicht alle Produkte jederzeit gegen alle austauschen. Ist aber der Austausch als ständiges allseitiges Verhältnis unmöglich, dann ist die Befriedigung aller Bedürfnisse in der Gesellschaft unmöglich, dann ist die allseitige Arbeit in der Gesellschaft unmöglich, dann ist die Existenz der Gesellschaft unmöglich. Und so wären wir wieder in der Klemme und könnten die Aufgabe nicht lösen, die wir uns gestellt haben: nämlich die Erklärung, wie aus den vereinzelten, zersplitterten Privatproduzenten, die kein gemeinschaftlicher Arbeitsplan, keine Organisation, kein Band verbindet, doch eine gesellschaftliche Zusammenarbeit und eine Wirtschaft zustande kommen kann. Der Austausch hat sich uns wohl als ein Mittel erwiesen, der dies alles, wenn auch auf seltsamen Wegen, regulieren kann. Dazu muß aber doch der Austausch erst überhaupt zustande kommen, als ein regelmäßiger Mechanismus funktionieren können. Jetzt finden wir aber im Austausch selbst schon beim ersten Schritt solche Schwierigkeiten, daß wir gar nicht einsehen, wie er überhaupt als ein allseitiges ständiges Geschäft vom Fleck kommen soll.

Nun, das Mittel, um diese Schwierigkeit zu überwinden und den gesellschaftlichen Austausch zu ermöglichen, ist gefunden worden. Zwar war es kein Kolumbus, der es entdeckte, aber die gesellschaftliche Erfahrung und die Gewohnheit haben unmerklich das Mittel im Austausch selbst gefunden, oder, wie man sagt, „das Leben“ selbst hat die Aufgabe gelöst. Wie denn überhaupt das gesellschaftliche Leben zugleich mit Schwierigkeiten immer auch die Mittel zu ihrer Lösung schafft. Alle Waren können freilich unmöglich von allen jederzeit, das heißt in unbeschränktem Maße, begehrt werden. Aber es gab jederzeit und in jeder Gesellschaft irgendeine Ware, die als Grundstock der Existenz für jedermann wichtig, notwendig, nützlich war, die er deshalb jederzeit begehrte. Eine solche dürften allerdings kaum je gerade die Stiefel gewesen sein, so eitel ist die Menschheit nicht. Aber ein solches Produkt konnte zum Beispiel das Vieh sein. Mit Stiefeln allein kann man nicht auskommen, auch nicht mit Klei-

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