Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 706

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den Aussterbeetat gesetzt wird. Derselbe Zwang, austauschbare Produkte für andere als Existenzbedingung für sich zu produzieren, wird unseren ausrangierten Schuster schließlich in ein anderes Gewerbe führen, wo ein starker und nicht genügend gedeckter Bedarf existiert, sagen wir zur Weberei oder zum Rollfuhrwerk, und so wird hier der Fehlbetrag an Arbeitskräften ausgefüllt. Auf dieselbe Weise wird aber nicht nur richtige Proportion unter den Gewerben eingehalten, sondern werden auch die Gewerbe selbst abgeschafft und neu geschaffen. Wenn ein Bedürfnis in der Gesellschaft aufhört oder durch andere Produkte als bisher gedeckt wird, so wird das nicht etwa, wie in der früheren kommunistischen Gemeinde, von den Mitgliedern festgestellt und entsprechend die Arbeitenden von einem Gewerbe zurückgezogen und anders verwendet. Es äußert sich dies einfach in der Unaustauschbarkeit der veralteten Produkte. Noch im 17. Jahrhundert bildeten die Perückenmacher ein Handwerk, das in keiner Stadt fehlen durfte. Nachdem jedoch die Mode gewechselt hat und man aufgehört hat, Perücken zu tragen, ist das Gewerbe einfach durch die Unverkäuflichkeit der Perücken eines natürlichen Todes gestorben. Mit der Verbreitung der Kanalisation in den modernen Städten und der Wasserleitungen, die jede Wohnung mechanisch mit Wasser versorgen, ist der Beruf der Wasserträger oder, wie sie in Wien hießen, Wasserer allmählich verschwunden. Jetzt nehmen wir einen umgekehrten Fall. Nehmen wir an, unser Schuster, dem die Gesellschaft durch systematische Verschmähung seiner Ware unzweideutig zu fühlen gegeben hat, daß er nicht gesellschaftlich notwendig ist, ist aber so eingebildet, trotzdem zu glauben, er sei ein unentbehrliches Glied der Menschheit, und will durchaus leben. Um zu leben, muß er, wie wir wissen und wie er weiß, Waren produzieren. Und nun erfindet er ein ganz neues Produkt, sagen wir, eine Bartbinde oder eine wundervolle Stiefelglanzwichse. Hat er damit einen neuen gesellschaftlich notwendigen Arbeitszweig geschaffen, oder wird er, wie so viele große Entdeckergenies, verkannt bleiben? Das sagt ihm wieder niemand, und das erfährt er nur auf dem Warenmarkt. Wird sein neues Produkt dauernd in Tausch genommen, dann ist der neue Produktionszweig als gesellschaftlich notwendig anerkannt, und die gesellschaftliche Arbeitsteilung hat eine neue Erweiterung erfahren.[1]

Sie sehen, wir haben in unserer Gemeinde, die nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regiments, des Gemeineigentums, nach dem Verschwinden jeglicher Autorität im Wirtschaftsleben, jeglicher Organisation und Planmäßigkeit in der Arbeit, jeglicher Bande unter den ein-

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[1] Randnotiz R. L.: Baumwolle hat im 19. Jahrhundert die Leinwand verdrängt.