Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 695

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des Knienden legt und ihn solchergestalt vom Todeszauber erlöst.“[1] Das ist ein Bild einer Gesellschaft, die von den ursprünglichen Grundlagen jedes primitiven Gemeinwesens, von der Gleichheit und Demokratie sehr weit abgekommen ist. Dabei ist gar nicht ausgemacht, daß unter dieser Form des politischen Despotismus nicht markgenossenschaftliche Verhältnisse, Gemeinbesitz an Grund und Boden, gemeinsam organisierte Arbeit fortbestand. Die Portugiesen, die sich den äußeren Plunder der Trachten und Audienzen aufs genaueste merkten, hatten, wie alle Europäer, für ökonomische Verhältnisse, namentlich für solche, die dem europäischen Privateigentum zuwiderliefen, keinen Blick, kein Interesse und keinen Maßstab. Auf jeden Fall aber unterscheidet sich die soziale Ungleichheit und die Despotie der primitiven Gesellschaften wesentlich von derjenigen, die in den zivilisierten Gesellschaften herrscht und von ihnen erst in die primitiven verpflanzt wird. Die Rangerhöhung des primitiven Adels, die despotische Gewalt des primitiven Häuptlings sind ebenso naturwüchsige Produkte der Gesellschaft wie alle ihre sonstigen Lebensbedingungen. Sie sind nur ein anderer Ausdruck für die Hilflosigkeit der Gesellschaft der umgebenden Natur und den eigenen sozialen Verhältnissen gegenüber, jene Hilflosigkeit, die gleichermaßen in den Zauberpraktiken des Kults wie in den periodisch eintretenden Hungersnöten zum Vorschein kommt, wobei die despotischen Häuptlinge mitsamt der Masse ihrer Untertanen halb oder ganz verhungern. Diese Adels- und Häuptlingsherrschaft befindet sich deshalb in völliger Harmonie mit den sonstigen materiellen und geistigen Lebensformen der Gesellschaft, was ja in der bezeichnenden Tatsache sichtbar wird, daß die politische Gewalt der primitiven Herrscher stets mit der primitiven Naturreligion, mit dem Kult der Verstorbenen aufs engste verflochten ist und von ihnen getragen wird. Von diesem Standpunkt ist der Muata Kasembe der Lundaneger, dem vierzehn Weiber lebendig ias Grab mitgegeben werden und der über Tod und Leben der Untertanen nach seiner unberechenbaren Laune verfügt, weil er im eigenen Glauben und in der felsenfesten Überzeugung seines Volkes ein mächtiger Zauberer ist, oder auch jener despotische „Fürst Kasongo“ am Lomamifluß – der 40 Jahre später dem Engländer Cameron in einem Frauenrock, mit Affenfellen betreßt und einem schmutzigen Taschentuch um dem Kopf, mit seinen zwei nackten Töchtern mit großer Würde inmitten seiner Granden und seines Volkes einen hüpfenden Tanz zur Be-

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[1] Stanleys und Camerons Reisen durch Afrika, Leipzig 1879, S. 74–80. [Richard Oberlinder: Livingstones Nachfolger. Afrika von Osten nach Westen quer durchwandert von Stanley und Cameron. Nach den Tagebüchern, Berichten und Aufzeichnungen der Reisenden, Leipzig 1879.] – [Fußnote im Original]