Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 679

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Benachteiligten als Ungerechtigkeit empfunden. Andererseits tritt in vielen Gegenden unvermeidlich eine Vermischung der Bevölkerung durch Abwanderung eines Teils der Verwandten, durch Kriege und Ausrottung eines anderen Teiles der angesessenen Bevölkerung, durch Ansiedlung und Aufnahme neuer Ankömmlinge [ein]. So wird trotz aller scheinbaren Unbeweglichkeit und Unveränderlichkeit der Verhältnisse die Bevölkerung der Gemeinden gewiß nach Bodengüte in Fluren („wund“) eingeteilt, und jede Familie kriegt einzelne Streifen sowohl in den besseren, bewässerten Fluren (die „sholgura“, von „shola“ = Reis, heißen) wie in den schlechteren („culmee“). Umlosungen waren zunächst, wenigstens vor der englischen Eroberung, nicht periodisch, sondern sie fanden jedesmal statt, wenn der natürliche Zuwachs der Bevölkerung eine tatsächliche Ungleichheit in der wirtschaftlichen Lage der Familien hervorgerufen hat. Namentlich dauerte dies in länderreichen Gemeinden, die einen Vorrat an brauchbaren Fluren hatten. In kleineren Gemeinden wurde die Umteilung alle 10, 8, 5 Jahre, oft jedes Jahr, vorgenommen. Letzteres fand besonders dort statt, wo Mangel an guten Fluren ihre gleichmäßige Verteilung an alle Markgenossen jedes Jahr unmöglich machte, wo also nur durch die abwechselnde Benutzung verschiedener Fluren die ausgleichende Gerechtigkeit betätigt werden kann. So endet die indische Geschlechtsgemeinde in ihrer Zersetzung mit der Form, die geschichtlich als die ursprüngliche germanische Markgenossenschaft festgestellt ist.

Wir haben in Britisch-Indien und in Algerien[1] zwei klassische Beispiele des Verzweiflungskampfes und des tragischen Endes der alten kommunistischen Wirtschaftsorganisation in ihrem Zusammenstoß mit dem europäischen Kapitalismus kennengelernt. Das Bild der wechselvollen Schicksale der Markgenossenschaft wäre nicht vollständig, wenn wir zum Schluß nicht das merkwürdige Beispiel eines Landes berücksichtigen würden, wo scheinbar die Geschichte einen ganz anderen Lauf genommen hat, wo nämlich der Staat nicht gewaltsam das bäuerliche Gemeineigentum zu zerstören, sondern gerade umgekehrt es mit allen Mitteln zu retten und zu konservieren suchte. Dies Land ist das zarische Rußland.

Wir haben uns hier nicht mit dem großen theoretischen Streit zu befas-

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[1] Die Abhandlung über Algerien ist im Manuskript nicht enthalten. Unmittelbar vor diesem Satz, in dem Britisch-Indien und Algerien als Beispiel genannt werden, fehlen im Manuskript, Rosa Luxemburgs ursprüngliche Paginierung zugrunde gelegt, die Blätter 44 bis 67. Diesen Abschnitt hat Rosa Luxemburg offensichtlich aus dem Manuskript der „Einführung” entnommen und für die „Akkumulation des Kapitals” verwandt, in der der Darstellung über die Kolonialwirtschaft des englischen Imperialismus in Indien eine solche über die Methoden des französischen Imperialismus in Algerien folgt. (Siehe S. 325–333). Diese Passage schließt inhaltlich die Lücke in der „Einführung” und entspricht auch dem Umfang nach den fehlenden Manuskriptseiten.