Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 656

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ander. Keiner durfte seinen Genossen dem feindlichen Speer überlassen. Bei Verbrechen und Schäden, die in der Mark geschahen oder von einem Märker auswärts verübt wurden, haftete die ganze Mark solidarisch. Die Märker waren verpflichtet, Reisende zu beherbergen und Bedürftige zu unterstützen. Jede Mark bildete ursprünglich eine religiöse Gemeinschaft, seit der Einführung des Christentums – was bei den Germanen zum Teil, wie bei den Sachsen, sehr spät, erst im 9. Jahrhundert, geschah – eine Kirchgemeinde. Endlich unterhielt die Mark in der Regel einen Schullehrer für die gesamte Jugend des Dorfes.

Man kann sich nichts Einfacheres und Harmonischeres zugleich vorstellen als dieses Wirtschaftssystem der alten germanischen Mark. Wie auf flacher Hand liegt hier der ganze Mechanismus des gesellschaftlichen Lebens. Ein strenger Plan, eine stramme Organisation umfassen hier das Tun und Lassen jedes einzelnen und fügen ihn dem Ganzen als ein Teilchen ein. Die unmittelbaren Bedürfnisse des täglichen Lebens und ihre gleichmäßige Befriedigung für alle, das ist der Ausgangspunkt und der Endpunkt der ganzen Organisation. Alle arbeiten gemeinsam für alle und bestimmen gemeinsam über alles. Woraus fließt aber und worauf gründet sich diese Organisation und die Macht der Gesamtheit über den einzelnen? Es ist nichts anderes als der Kommunismus an Grund und Boden, das heißt gemeinsamer Besitz des wichtigsten Produktionsmittels durch die Arbeitenden. Die typischen Züge der agrarkommunistischen Wirtschaftsorganisation kommen jedoch am besten zum Vorschein, wenn man sie vergleichend auf internationaler Basis studiert, um sie somit als Weltform der Produktion in ihrer historischen Mannigfaltigkeit und Biegsamkeit zu erfassen.

Wenden wir uns nach dem alten Inkareich in Südamerika. Das Gebiet dieses Reiches, das die heutigen Republiken Peru, Bolivia und Chile, also ein Gebiet von [3 364 600 km2] mit einer heutigen Bevölkerung von [12 Millionen Einwohnern], umfaßt, war zur Zeit der spanischen Eroberung durch Pizarro noch in derselben Weise bewirtschaftet wie lange Jahrhunderte ehedem. Zunächst finden wir hier genau dieselben Einrichtungen wie bei den alten Germanen. Jede Geschlechtsgenossenschaft, zugleich eine Hundertschaft wehrfähiger Männer, nimmt ein bestimmtes Gebiet ein, das ihr als Mark gehört und merkwürdigerweise bis auf den Namen Marca der germanischen gleicht. Vom Markgebiet war das Ackerland abgeschieden, in Lose geteilt und jährlich vor der Aussaat unter die Familien verlost. Die Größe der Lose richtete sich nach der Größe der Familien, also nach ihren Bedürfnissen. Die Dorfvorsteher, deren Amt zur Zeit der Ausbildung des Inkareiches, also um das 10.–11. Jahrhundert, bereits von

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