Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 631

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des Emu nur äußerst mäßig, die Eier und das Fett des Vogels aber, das als Heilmittel gebraucht wird, gar nicht für sich nehmen, sondern den Stammesgenossen abliefern. Andererseits dürfen die anderen Gruppen das Tier oder die Pflanze nicht ohne Erlaubnis der entsprechenden Totemmänner jagen oder sammeln und in Nahrung nehmen. Alljährlich wird von jeder Gruppe eine feierliche Zeremonie abgehalten, die den Zweck hat, den Nachwuchs des Totemtieres oder der -pflanze (durch Gesänge, Blasen und verschiedene Kultzeremonien) zu sichern, worauf erst den anderen Gruppen gestattet ist, davon zu essen. Den Zeitpunkt, wann die Zeremonien stattzufinden haben, bestimmt für jede Gruppe ihr Häuptling, der auch die Zeremonie leitet. Und dieser Zeitpunkt ist direkt mit den Produktionsbedingungen verknüpft. In Zentralaustralien gibt es eine lange trockene Jahreszeit, unter der Tier und Pflanze stark leiden, und eine kurze Regenzeit, der eine Zunahme des tierischen Lebens und ein üppiger Pflanzenwuchs folgen. Die meisten Zeremonien der Totemgruppen werden nun beim Herannahen der guten Jahreszeit abgehalten. Noch Ratzel betrachtete es als ein „komisches Missverständnis“, wenn gesagt wurde, die Australier benennen sich nach ihren wichtigsten Nahrungsmitteln.[1] In dem oben kurz angedeuteten System der Totemgruppen muß aber jedermann schon auf den ersten Blick eine ausgebildete Organisation der gesellschaftlichen Produktion erkennen. Die einzelnen Totemgruppen sind offenbar nichts anderes als Glieder eines ausgedehnten Systems der Arbeitsteilung. Alle Gruppen zusammen bilden ein geordnetes, planmäßiges Ganzes, und auch jede Gruppe für sich verfährt ganz organisiert und planmäßig unter einer einheitlichen Leitung. Die Tatsache aber, daß dieses Produktionssystem in religiöser Form auftritt, in Form von allerlei Speiseverboten, Zeremonien usw„ beweist nur, daß dieser Produktionsplan uralten Datums ist, daß vor vielen Jahrhunderten, ja Jahrtausenden diese Organisation bereits bei den Australnegern bestand, so daß sie Zeit hatte, in starren Formeln zu verknöchern, daß zu Artikeln des Glaubens an geheimnisvolle Zusammenhänge wurde, was ursprünglich einfache Zweckmäßigkeiten vom Standpunkte der Produktion und der Nahrungsbeschaffung war. Diese von den Engländern Spencer und Gillen aufgedeckten Zusammenhänge werden auch von einem anderen Gelehrten, Frazer, bestätigt. Dieser sagt zum Beispiel ausdrücklich: „Wir müssen dessen eingedenk bleiben, daß die verschiedenen Totemgruppen in der totemistischen Gesellschaft nicht voneinander isoliert leben; dieselben sind vermengt und üben ihre magischen Kräfte zum Gemeinwohl aus. Im ur-

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[1] Friedrich Ratzel: Völkerkunde, 2. Bd„ Leipzig 1886. S. 64. – [Fußnote im Original]