Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 624

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liehen, vor der sich die Willkür des Mannes beugen muß“[1], schließt Herr Grosse, indem er nach langen Irrfahrten auf den Gewässern der Wirtschaftsgeschichte glücklich im Hafen der christlichen Kirche vor Anker gegangen ist. Nicht wahr, wie „überraschend verständlich“ erscheinen doch die Familienformen, welche die Soziologen zu so „seltsamen Hypothesen begeistert haben“, wenn man sie „im Zusammenhang mit den Produktionsformen“ betrachtet!

Das Frappanteste jedoch bei dieser Geschichte der „Familienform“ ist die Behandlung des Geschlechtsverbandes oder der Sippe, wie Grosse ihn nennt. Wir haben gesehen, welche enorme Rolle die Geschlechtsverbände auf den früheren Kulturstufen für das gesellschaftliche Leben spielten. Wir haben gesehen, daß sie – namentlich nach Morgans epochemachenden Untersuchungen – die eigentliche Gesellschaftsform der Menschen vor der Ausbildung des territorialen Staates und noch lange danach die wirtschaftliche Einheit sowie die religiöse Gemeinschaft waren. Wie verhalten sich diese Tatsachen zur merkwürdigen Geschichte der Grosseschen „Familienformen“? Grosse kann offenbar das Bestehen der Sippenverfassung bei allen primitiven Völkern nicht einfach leugnen. Da sie aber mit seinem Schema der Einzelfamilien und der Herrschaft des Privateigentums im Widerspruch stehen, so sucht er ihre Bedeutung möglichst auf nichts zu reduzieren, ausgenommen die eine Periode des niederen Ackerbaues. „Die Sippenmacht ist mit der niederen Ackerwirtschaft entstanden, und mit ihr vergeht sie auch. Bei sämtlichen höheren Ackerbauvölkern ist die Sippenordnung entweder schon verfallen oder sie verfällt.“[2] So läßt Grosse die „Sippenmacht“ mit ihrer kommunistischen Wirtschaft mitten in der Wirtschaftsgeschichte und Familiengeschichte wie aus der Pistole geschossen auftauchen, um sie alsbald wieder der Auflösung anheimfallen zu lassen. Wie denn die Entstehung, das Bestehen, die Funktionen der Sippenordnung in den Jahrtausenden der Kulturentwicklung vor dem niederen Ackerbau zu erklären sind, da sie nach Grosse in jenen Zeiten weder eine wirtschaftliche Funktion noch eine soziale Bedeutung gegenüber der Einzelfamilie haben, was überhaupt diese Sippen sind, die bei den Jägern, bei den Viehzüchtern im Hintergrund der Sonderfamilien mit Privatwirtschaft ihr schattenhaftes Dasein führen, bleibt ein Privatgeheimnis des Herrn Grosse. Ebensowenig kümmert er sich darum, daß sein Geschicht-

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[1] [Ernst] Grosse: Die Formen der Famille [und die Formen der Wirtschaft, Freiburg i. B. u. Leipzig] 1896, S. 238. – [Fußnote im Original]

[2] [Ernst] Grosse: Die Formen der Familie [und die Formen der Wirtschaft, Freiburg i. B. u. Leipzig.1896], S. 215 u. 207. – [Fußnote im Original]