Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 622

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welche bei den meisten dieser ackerbauenden Völker herrschen und welche einen Kompromiß zwischen der matriarchalischen und der patriarchalischen Richtung darstellen. Ein großer Teil der Menschheit hat indessen eine ganz andere Entwicklung erfahren. Diejenigen Jägervölker, welche in Gegenden lebten, die dem Ackerbau Schwierigkeiten entgegensetzten, während sie dem Menschen Tiere darboten, welche die Domestikation gestatteten und lohnten, sind nicht wie jene ersten zur Pflanzenzucht, sondern zur Viehzucht fortgeschritten. Die Viehzucht aber, welche sich allmählich aus der Jagd entwickelt hat, erscheint genau wie diese ursprünglich überall als ein Vorrecht des Mannes. Auf diese Weise wird das bereits vorhandene wirtschaftliche Übergewicht der männlichen Seite noch verstärkt, und dieses Verhältnis findet einen konsequenten Ausdruck in der Tatsache, daß sämtliche Völker, die sich vorzugsweise durch die Viehzucht ernähren, unter der Herrschaft der patriarchalischen Familienform stehen. Außerdem wird die gebietende Stellung des Mannes in den viehzüchtenden Gesellschaften noch durch einen anderen Umstand erhöht, der ebenfalls unmittelbar mit der Form ihrer Produktion zusammenhängt. Viehzüchtende Völker neigen stets zu kriegerischen Verwicklungen und infolgedessen zur Ausbildung einer zentralisierten kriegerischen Organisation. Die unvermeidliche Folge ist jene extreme Form des Patriarchates, in welchem die Frau als rechtlose Sklavin unter ihrem mit despotischer Gewalt bekleideten Eheherren steht.“ Aber jene friedlichen ackerbautreibenden Völker, bei denen die Frau als Ernährerin in der Familie herrscht oder doch wenigstens zum Teil sich einer freieren Stellung erfreut, werden zumeist von den kriegerischen Viehzüchtern unterworfen und übernehmen von diesen mit anderen Sitten auch die despotische Herrschaft des Mannes in der Familie. „Und so finden wir denn heute alle Kulturnationen unter dem Zeichen einer mehr oder minder scharf ausgeprägten patriarchalischen Familienform.“[1]

Die hier geschilderten seltsamen historischen Schicksale der menschlichen Familie in ihrer Abhängigkeit von den Produktionsformen laufen also auf das folgende Schema hinaus: Periode der Jagd – Einzelfamilie mit Männerherrschaft, Periode der Viehzucht – Einzelfamilie mit noch ärgerer Männerherrschaft, Periode des niederen Ackerbaues – Einzelfamilie mit stellenweiser Frauenherrschaft, später aber Unterwerfung der Ackerbauer durch die Viehzüchter, also auch hier Einzelfamilie mit Männerherrschaft, und als Schlußstein des Gebäudes: Periode des höhe-

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[1] [Ernst] Grosse: Die Anfänge der Kunst [Freiburg i. B. u. Leipzig 1894], S. 35–37 u. 38. 622. – Im Original mit *.