Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 621

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der sozialer oder rechtlicher Verhältnisse ist der, daß sie diese zu schnell mit ihnen bekannten Verhältnissen vergleichen, die anscheinend von derselben Art sind.“[1]

Der Zusammenhang der Familienformen mit den so verstandenen „Produktionsformen“ sieht nun bei Herrn Grosse folgendermaßen aus: „Auf der niedersten Stufe ernährt sich der Mensch durch die Jagd – im weitesten Sinne – und durch das Einsammeln von Vegetabilien. Bei dieser primitivsten Form der Produktion zeigt sich zugleich die primitivste Form der Arbeitsteilung – die physiologisch begründete Arbeitsteilung zwischen den beiden Geschlechtern. Während sich der Mann die Sorge für die animalische Nahrung vorbehält, ist das Einsammeln von Wurzeln und Früchten die Aufgabe der Frau. Unter diesen Verhältnissen liegt der wirtschaftliche Schwerpunkt fast immer auf der männlichen Seite, und infolgedessen trägt die primitive Familienform überall einen unverkennbaren patriarchalischen Charakter. Welcherart auch die Anschauungen über Blutsverwandtschaft sein mögen, der primitive Mann steht, selbst wenn er nicht als Blutsverwandter seiner Nachkommen gilt, tatsächlich als Herr und Eigentümer in der Mitte seiner Weiber und Kinder. Von dieser untersten Stufe aus kann die Produktion nach zwei Richtungen fortschreiten; je nachdem der weibliche oder der männliche Wirtschaftsbetrieb eine weitere Ausbildung erfährt. Welcher von den beiden Zweigen aber zum Stamme auswachsen soll, das hängt in erster Linie von den natürlichen Bedingungen ab, unter denen die primitive Gruppe lebt. Wenn die Flora und das Klima des Landes zunächst die Schonung und später die Pflege von Nutzpflanzen nahelegen und lohnen, so entwickelt sich der weibliche Wirtschaftszweig, das Pflanzensammeln, allmählich zum Pflanzenbau. In der Tat liegt bei primitiven ackerbauenden Völkern dieses Geschäft stets in den Händen der Frau. Damit ist aber auch der wirtschaftliche Schwerpunkt auf die weibliche Seite verlegt, und infolgedessen finden wir bei allen primitiven Gesellschaften, die sich vorwiegend auf den Ackerbau stützen, eine matriarchalische Familienform oder doch die Spuren einer solchen. Die Frau als Haupternährerin und Grundherrin steht jetzt im Mittelpunkt der Familie. Zu der Ausbildung eines Matriarchats im eigentlichen Sinne, zu einer wirklichen Frauenherrschaft, ist es allerdings nur in sehr seltenen Fällen gekommen – nämlich nur dort, wo die soziale Gruppe den Angriffen äußerer Feinde entrückt war. In allen anderen Fällen gewann der Mann das Übergewicht, welches er als Ernährer verloren hatte, als Beschützer wieder. Auf diese Weise entstehen die Familienformen,

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[1] Henry Sumner Maine: Village-Communities in the East and West, London 1907, S. 7.