Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 617

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-5/seite/617

Taschen er sich seine Überlegenheit über die „meisten Kulturhistoriker“ in fertigem Zustand geholt hat. Ja, er ist sogar in bezug auf die materialistische Geschichtsauffassung „katholischer als der Papst“. Während Engels – neben Marx der Mitschöpfer der materialistischen Geschichtsauffassung – für die Entwicklung der Familienverhältnisse in primitiven Zeiten bis zur Ausbildung der heutigen staatlich beglaubigten Zwangsehe einen von wirtschaftlichen Verhältnissen unabhängigen Fortgang der Formen annahm, denen nur die Interessen der Erhaltung des Menschengeschlechts und seiner Vermehrung zugrunde lagen, geht Grosse darin sehr viel weiter. Er stellt die Theorie auf, daß die jeweilige Familienform zu allen Zeiten nur das direkte Produkt der zur Zeit herrschenden Wirtschaftsverhältnisse war. „Nirgends ...“, sagt er „tritt die Kulturbedeutung der Produktion so einleuchtend hervor als in der Geschichte der Familie. Die seltsamen Formen der menschlichen Familien, welche die Soziologen zu noch seltsameren Hypothesen begeistert haben, erscheinen überraschend verständlich, sobald man sie im Zusammenhange mit den Formen der Produktion betrachtet.“[1]

Sein 1896 erschienenes Buch „Die Formen der Familie und die Formen der Wirtschaft“ ist ganz dem Nachweis dieses Gedankens gewidmet. Zugleich aber ist Grosse entschiedener Gegner der Lehre vom Urkommunismus. Auch er sucht nachzuweisen, daß die gesellschaftliche Entwicklung der Menschheit beileibe nicht mit Gemeineigentum, sondern mit Privateigentum begonnen habe, auch er bemüht sich wie Lippert und Bücher, von seinem Standpunkt aus darzutun, daß, je weiter wir in die Urgeschichte zurückgehen, um so ausschließlicher und allmächtiger das „Individuum“ mit seinem „individuellen Besitz“ vorherrsche. Zwar ließen sich die Entdeckungen über die kommunistische Dorfgemeinde in allen Weltteilen und im Zusammenhang mit ihr die Geschlechterverbände oder, wie Grosse sie nennt, die Sippen nicht einfach bestreiten. Allein Grosse läßt eben – darin besteht seine eigentliche Theorie – die Geschlechtsorganisation als Rahmen der kommunistischen Wirtschaft nur auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung aufkommen: mit dem niederen Ackerbau, um sie alsbald auf der Stufe des höheren Ackerbaus der Auflösung verfallen und wieder dem „individuellen Eigentum“ Platz machen zu lassen. Auf diese Weise stellt Grosse triumphierend die von Morgan-Marx aufgestellte hisiorische Perspektive direkt auf den Kopf. Nach dieser war der Kommunismus die Wiege der Menschheit in ihrer Kulturentwicklung, die Form der Wirtschaftsverhältnisse, die diese Entwicklung in unermeßlich langen

Nächste Seite »



[1] Ernst Grosse: Die Anfänge der Kunst, Freiburg i. B. u. Leipzig 1894, S. 35.