Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 616

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von der individuellen Nahrungssuche“ der primitiven Völker und von den „unermeßlichen Zeiträumen“ entgegengesetzt, in denen „der Mensch existiert hat, ohne zu arbeiten“.[1] Für den Kulturhistoriker Schurtz ist aber Professor Karl Bücher mit seinem „genialen Blick“ der Prophet, dem er in Sachen primitiver Wirtschaftsverhältnisse blindlings folgt.[2] Der typischste und energischste Wortführer aber der Reaktion gegen die gefährlichen Lehren vom Urkommunismus und der Gentilverfassung, gegen den „Kirchenvater der deutschen Sozialdemokratie“[3], Morgan, ist Herr Ernst Grosse. Auf den ersten Blick ist Grosse selbst Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung, das heißt, er führt verschiedene rechtliche, geschlechtliche, geistige Formen des gesellschaftlichen Lebens auf die jeweiligen Produktionsverhältnisse als auf den jene Formen bestimmenden Faktor zurück. „Nur wenige Kulturhistoriker“, sagt er in seinem 1894 erschienenen „Anfänge der Kunst“, „scheinen die ganze Bedeutung der Produktion begriffen zu haben. Es ist allerdings weit leichter, sie zu unterschätzen als zu überschätzen. Der Wirtschaftsbetrieb ist gleichsam das Lebenszentrum jeder Kulturform; er beeinflußt alle übrigen Faktoren der Kultur auf die tiefste und unwiderstehlichste Art, während er selbst nicht sowohl durch kulturelle als durch natürliche Faktoren – durch geographische und meteorologische Verhältnisse bestimmt wird. Man könnte mit einem gewissen Rechte die Produktionsform das primäre Kulturphänomen nennen, neben dem alle anderen Zweige der Kultur nur als abgeleitet und sekundär erscheinen; freilich nicht etwa in dem Sinne, als ob diese anderen Zweige aus dem Stamme der Produktion entstanden wären, sondern weil sie sich, obwohl sie selbständig entstanden sind, stets unter dem übermächtigen Drucke des herrschenden wirtschaftlichen Faktors geformt und entwickelt haben.“[4] Es scheint auf den ersten Blick, daß Grosse selbst den „Kirchenvätern der deutschen Sozialdemokratie“, den Marx und Engels, seine Hauptgedanken abgelernt hat, wenn er sich auch wohl verständlich hütet, auch nur mit einem Wort zu verraten, aus wessen wissenschaftlichen

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[1] Karl Bücher: Die Entstehung der Volkswirtschaft. Vorträge und Versuche, Tübingen 1906, S. 8 f.

[2] Auch Professor Ed. Meyer schreibt in seiner 1907 erschienenen Einleitung zur „Geschichte des Altertums” (S. 67): „Die von G. Hansen begründete und allgemein anerkannte Annahme, daß dem Privatbesitz am Boden ursprünglich überall ein Gemeinbesitz mit periodischer Verteilung, wie Cäsar und Tacitus ihn bei den Germanen schildern, vorangegangen sei, ist neuerdings sehr stark bestritten; jedenfalls ist der russische Mir, der als typisch dafür gilt, erst im 17. Jahrhundert entstanden.” Diese letztere Behauptung übernimmt Professor Meyer übrigens kritiklos aus der alten Theorie des russischen Professors Tschitscherin. – Im Original mit *.

[3] Siehe Ernst Grosse: Die Formen der Familie und die Formen der Wirtschaft, Freiburg i. B. u. Leipzig 1896, S. 3.

[4] Ernst Grosse: Die Anfänge der Kunst, Freiburg i. B. u. Leipzig 1894, S. 34 f.