Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 610

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durch die tatsächliche materielle Entwicklung der Gesellschaft überholt sind.

3. Auf Grund der Entwicklungsgeschichte der Familienverhältnisse gab Morgan die erste erschöpfende Untersuchung jener alten Geschlechtsverbände, die bei allen Kulturvölkern, bei den Griechen und Römern, bei Kelten und Germanen, bei den alten Israeliten, am Anfang der historischen Überlieferung stehen und bei den meisten primitiven jetzt noch lebenden Völkern festgestellt sind. Er wies nach, daß diese auf Blutsverwandtschaft und gemeinsamer Abstammung beruhenden Verbände einerseits nur eine hohe Stufe in der Familienentwicklung, andererseits die Grundlage des gesamten gesellschaftlichen Lebens der Völker sind – in den langen Zeitstrecken, als noch kein Staat im modernen Sinne, das heißt keine politische Zwangsorganisation auf fester territorialer Grundlage existierte. Jeder Stamm, der selbst aus einer bestimmten Anzahl Geschlechtsverbände oder, wie die Römer es nannten, Gentes bestand, hatte sein eigenes Gebiet, das ihm insgesamt gehörte, und in jedem Stamm war der Geschlechtsverband die Einheit, in der gemeinsamer Haushalt kommunistisch geführt wurde, in der es keine Reichen und Armen, keine Faulenzer und Arbeiter, keine Herren und Knechte gab und wo sämtliche öffentlichen Angelegenheiten durch die freie Wahl und Entscheidung aller geregelt waren. Als ein lebendiges Beispiel dieser ehemals von allen Völkern der heutigen Zivilisation durchgemachten Verhältnisse schilderte Morgan eingehend die Gentilorganisation der amerikanischen Indianer, wie sie zur Zeit der Eroberung Amerikas durch die Europäer in Blüte stand.

„Alle ihre Mitglieder“, sagte er, „sind freie Leute, verpflichtet, einer des anderen Freiheit zu schützen; gleich in persönlichen Rechten – weder Friedensvorsteher noch Kriegsführer beanspruchen irgendwelchen Vorrang; sie bilden eine Brüderschaft, verknüpft durch Blutsbande. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, obwohl nie formuliert, waren die Grundprinzipien der Gens, und diese war wiederum die Einheit eines ganzen gesellschaftlichen Systems, die Grundlage der organisierten indianischen Gesellschaft. Das erklärt den unbeugsamen Unabhängigkeitssinn und die persönliche Würde des Auftretens, die jedermann bei den Indianern anerkennt.“[1]

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[1] Alle Mitglieder einer irokesischen Gens waren persönlich frei und verpflichtet, einer des anderen Freiheit zu schützen; sie waren einander gleich in Befugnissen und persönlichen Rechten, denn weder Sachems noch Häuptlinge beanspruchten irgendwelchen Vorrang, und sie waren eine durch Blutbande verknüpfte Brüderschaft. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, obwohl nie formuliert, waren die Grundprinzipien der Gens. Diese Tatsachen sind wesentlich, weil die Gene die Einheit eines ganzen gesellschaftlichen Systems war, die Grundlage, auf welcher die Indianergesellschaft organisiert war. Ein aus solchen Einheiten zusammengefügter Bau mußte notwendig die Merkmale ihres Charakters zeigen, denn wie die Einheiten, so das aus ihnen zusammengesetzte Ganze. Dies erklärt hinlänglich den Unabhängigkeitssinn und die persönliche Würde des Auftretens, die allgemein als Attribute des Indianercharakters anerkannt sind.” (Lewis H. Morgan: Die Urgesellschaft. Untersuchungen über den Fortschritt der Menschheit aus der Wildheit durch die Barbarei zur Zivilisation, Stuttgart 1908, S. 73.)