Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 609

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deren entscheidende Fortschritte selbst ebenso viele Marksteine dieser Entwicklung sind:

2. Die zweite große Leistung Morgans bezieht sich auf die Familienverhältnisse der primitiven Gesellschaft. Auch hier hat er auf Grund eines umfangreichen Materials, das er sich durch eine internationale Umfrage verschafft hatte, die erste wissenschaftlich begründete Reihenfolge der Entwicklungsformen der Familie von den tiefsten Formen einer ganz primitiven Gesellschaft bis zu der jetzt herrschenden Monogamie, das heißt der fésten staatlich beglaubigten Einzelehe mit der herrschenden Stellung des Mannes, aufgestellt. Freilich ist seither gleichfalls Material zutage gefördert worden, das an dem Morganschen Entwicklungsschema der Familie manche Korrektur im einzelnen angebracht hat. Die Grundzüge seines Systems jedoch als der ersten streng vom Entwicklungsgedanken geleiteten Stufenleiter der Familienformen der Menschheit von der grauen Vorzeit bis zur Gegenwart bleiben ein dauernder Beitrag zur Schatzkammer der Gesellschaftswissenschaft. Auch dieses Gebiet hat Morgan übrigens nicht bloß um die Systematik bereichert, sondern auch um einen genialen grundliegenden Gedanken über das Verhältnis zwischen den jeweiligen Familienverhältnissen einer Gesellschaft und dem in ihr geltenden Verwandtschaftssystem. Morgan hat zuerst aùf die frappante Tatsache aufmerksam gemacht, daß bei vielen primitiven Völkern die wirklichen Geschlechts- und Abstammungsverhältnisse, das heißt die wirkliche Familie, gar nicht übereinstimmt mit den Verwandtschaftstiteln, die sich die Menschen gegenseitig beilegen, und mit den gegenseitigen Pflichten, die ihnen aus diesen Titeln erwachsen. Er hat zuerst für dieses rätselhafte Phänomen eine rein materialistisch-dialektische Erklärung gefunden. „Die Familie“, sagt Morgan, „ist ein aktives Element, sie ist niemals stationär, sondern schreitet aus einer niederen zu einer höheren Form vor, so wie die Gesellschaft von niederer zu höherer Stufe sich entwickelt ... Die Verwandtschaftssysteme dagegen sind passiv; nur in langen Zwischenräumen registrieren sie die Fortschritte, welche die Familie im Laufe der Zeit gemacht hat, und erfahren nur dann eine radikale Änderung, wenn die Familie sich radikal verändert hat.“[1]

So kommt es denn, daß bei den primitiven Völkern Verwandtschaftssysteme noch in Geltung sind, die einer früheren, bereits überwundenen Familienform entsprechen, wie überhaupt die Vorstellungen und Ideen der Menschen meist noch lange an Zuständen haftenbleiben, die bereits

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[1] Lewis H. Morgan: Die Urgesellschaft. Untersuchungen über den Fortschritt der Menschheit aus der Wildheit durch die Barbarei zur Zivilisation, Stuttgart 1908, S. 366.