Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 608

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gesamte primitive Kulturgeschichte als gleichwertigen, ja als unendlich wichtigeren Teil in der ununterbrochenen Entwicklungsreihe der Menschheit hingestellt hat, unendlich wichtiger sowohl wegen der unendlich längeren Zeitdauer, die sie im Vergleich mit dem winzigen Abschnitt der geschriebenen Geschichte einnimmt, als auch wegen der entscheidenden Errungenschaften der Kultur, die gerade in jener langen Dämmerung des gesellschaftlichen Daseins der Menschheit gemacht worden sind. Indem Morgan zum erstenmal die Bezeichnungen Wildheit, Barbarei und Zivilisation mit positivem Inhalt gefüllt, hat er sie zu exakten wissenschaftlichen Begriffen gemacht und als Werkzeuge der wissenschaftlichen Forschung verwendet. Wildheit, Barbarei und Zivilisation sind bei Morgan drei Abschnitte der Kulturentwicklung, geschieden voneinander durch ganz bestimmte materielle Kennzeichen und selbst zerfallend in je eine Unter-, Mittel- und Oberstufe, zu deren Unterscheidung wieder konkrete bestimmte Errungenschaften und Fortschritte der Kultur dienen. Mögen heute pedantische Besserwisser darüber eifern, daß die Mittelstufe der Wildheit nicht, wie Morgan meinte, mit dem Fischfang, die Oberstufe mit der Erfindung des Bogens und Pfeils beginnen konnte und dergleichen, da in vielen Fällen die Ordnung eine umgekehrte gewesen sei, in anderen ganze Stufen aus natürlichen Umständen ausfallen mußten – Einwände, die übrigens gegen jede historische Klassifikation gemacht werden können, wenn man sie als starres Schema von absoluter Gültigkeit, als eiserne Sklavenkette der Erkenntnis statt als ihr lebendiges und biegsames Leitseil auffaßt. Es bleibt genau dasselbe epochemachende Verdienst Morgans, für die Erforschung der Urgeschichte durch seine erste wissenschaftliche Klassifikation die Vorbedingungen geschaffen zu haben, wie es Linnés Verdienst ist, die erste wissenschaftliche Klassifikation der Pflanzen geliefert zu haben. Doch mit einem großen Unterschied. Linné hat bekanntlich zur Grundlage seiner Systematisierung der Pflanzen ein sehr brauchbares, aber rein äußerliches Merkmal – die Geschlechtsorgane der Pflanzen – genommen, und dieser erste Notbehelf mußte später, wie es Linné selbst wohl erkannte, einer lebendigeren natürlichen Klassifikation vom Standpunkte der Entwicklungsgeschichte der Pflanzenwelt Platz machen. Morgan hat umgekehrt gerade durch die Wahl des Grundprinzips, auf das er seine Systematik stellte, am meisten die Forschung befruchtet: Er hat nämlich zum Ausgangspunkt seiner Klassifikation den Satz gemacht, daß es jeweilig die Art der gesellschaftlichen Arbeit, die Produktion ist, die in jeder Geschichtsepoche von den ersten Anfängen der Kultur an die gesellschaftlichen Verhältnisse der Menschen in erster Reihe bestimmt und

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