Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 607

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Leben zum großen Teil unter einem Indianerstamme der Irokesen im Staate New York verlebt und die Verhältnisse dieses primitiven Jägervolkes aufs gründlichste erforscht hat, kam durch Vergleichung dieser seiner Ergebnisse mit den von anderen primitiven Völkern bekannten Tatsachen zu einer neuen großangelegten Theorie über die Entwicklungsformen der menschlichen Gesellschaft in jenen enormen Zeitstrecken, die jeder geschichtlichen Kunde vorausgegangen sind. Die bahnbrechenden Ideen Morgans, die bis auf den heutigen Tag trotz einer Fülle neuen Materials, das seitdem hinzugetreten ist und manche Einzelheiten seiner Darlegungen korrigiert hat, volle Kraft bewahren, lassen sich in folgenden Punkten zusammenfassen.

1. Morgan hat als erster in die vorgeschichtliche Kulturgeschichte eine wissenschaftliche Ordnung gebracht, indem er in ihr sowohl bestimmte Entwicklungsstuf en aufzeichnete wie auch die grundlegende, treibende Kraft dieser Entwicklung bloßlegte. Bis dahin bildeten die enorme Zeitstrecke des Gesellschaftslebens vor jeder geschriebenen Geschichte und zugleich die Gesellschaftsverhältnisse der jetzt noch lebenden primitiven Völker mit all ihrer bunten Fülle von Formen und Stadien mehr oder minder ein wüstes Chaos, aus dem nur hie und da einzelne Kapitel und Fragmente etwas ans Licht der wissenschaftlichen Forschung gezogen worden waren. Namentlich galten die Bezeichnungen „Wildheit“ und „Barbarei“, mit denen man jene Zustände summarisch zu belegen.pflegte, nur als negative Begriffe, als Bezeichnungen für den Mangel alles dessen, was man als Kennzeichen der „Zivilisation“, das heißt in der damaligen Auffassung des gesitteten Lebens der Menschen, betrachtete. Von jenem Standpunkte begann nämlich das eigentliche gesittete, das menschenwürdige Leben der Gesellschaft erst mit den Zuständen, die in der geschriebenen Geschichte aufgezeichnet sind. Alles, was zu „Wildheit“ und „Barbarei“ gehörte, bildete gleichsam nur eine minderwertige, beschämende Vorstufe der Zivilisation, eine halb tierische Existenz, auf die die heutige Kulturmenschheit nur mit herablassender Geringschätzung blicken kann. Genauso wie für die offiziellen Vertreter der christlichen Kirche alle primitiven und vorchristlichen Religionen lediglich eine lange Reihe von Verirrungen darstellen bei dem Suchen der Menschheit nach der einzigen wahren Religion, so waren namentlich für die Nationalökonomen alle primitiven Wirtschaftsformen nur unbeholfene Versuche vor dem Auffinden der einzigen wahren Wirtschaftsform: des Privateigentums und der Ausbeutung, mit denen die geschriebene Geschichte und die Zivilisation beginnt. Morgan hat dieser Auffassung einen entscheidenden Stoß versetzt, indem er die

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