Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 606

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Wie heute noch, hatte auch früher von allen Wissenschaften die bürgerliche Nationalökonomie als die geistige Schutzgarde der herrschenden Form der Ausbeutung am wenigsten Verständnis für andersgeartete Kultur- und Wirtschaftsformen gehabt, und es war Wissenschaftszweigen vorbehalten, die etwas weiter vorn direkten Interessengegensatz und Kampfplatz zwischen Kapital und Arbeit stehen, in den kommunistischen Einrichtungen der früheren Zeiten eine allgemein herrschende Form der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung auf einer bestimmten Stufe zu erkennen. Es waren Juristen wie von Maurer und Kowalewski, wie der englische Rechtsprofessor und Staatsrat für Indien, Sir Henry Maine, die zuerst den Agrarkommunismus als eine internationale, für alle Weltteile und Rassen geltende primitive Entwicklungsform zur Anerkennung brachten. Und einem juristisch ausgebildeten Soziologen, dem Amerikaner Morgan, war es vorbehalten, für diese wirtschaftliche Form der Entwicklung die nötige soziale Struktur der primitiven Gesellschaft als Basis zu entdecken.

Die große Rolle der Verwandtschaftsbande bei den uralten kommunistischen Dorfgemeinden war den Forschern sowohl in Indien wie in Algerien wie auch bei den Slawen aufgefallen. Von den Germanen stand es nach den Forschungen von Maurers fest, daß sie nicht anders denn als Geschlechter, also [als] Verwandtschaftsgruppen, ihre Ansiedlung in Europa vollzogen. Die Geschichte der antiken Völker, der Griechen und Römer, zeigte auf Schritt und Tritt, daß das Geschlecht bei ihnen seit jeher die größte Rolle als soziale Gruppe spielte, als wirtschaftliche Einheit, als Rechtsinstitut, als geschlossener Kreis des religiösen Kults. Endlich brachten fast alle Nachrichten der Reisenden in sogenannten wilden Ländern mit merkwürdiger Übereinstimmung die Tatsache zum Vorschein, daß, je primitiver ein Volk, um so größer die Rolle der Verwandtschaftsbande im Leben dieses Volkes; um so mehr beherrschen sie seine wirtschaftlichen, sozialen und religiösen Verhältnisse und Vorstellungen.

Der wissenschaftlichen Forschung bot sich damit ein neues hochwichtiges Problem. Was waren eigentlich jene Geschlechtsverbände, die in uralten Zeiten eine so große Bedeutung hatten, wie hatten sie sich ausgebildet, in welchem Zusammenhang standen sie mit dem wirtschaftlichen Kommunismus und der wirtschaftlichen Entwicklung im allgemeinen? Über all diese Fragen hat zum erstenmal Morgan in seiner „Urgesellschaft“ 1877 in epochemachender Weise Aufschluß gegeben.[1] Morgan, der sein

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[1] Lewis H. Morgan: Die Urgesellschaft. Untersuchungen über den Fortschritt der Menschheit aus der Wildheit durch die Barbarei zur Zivilisation, Stuttgart 1908.