Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 595

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Völker, von denen die geschriebene Geschichte noch nichts weiß, herrschten bei den Germanen Zustände, die von den heutigen grundverschieden waren. Kein Staat mit geschriebenen Zwangsgesetzen, keine Spaltung in Reiche und Arme, Herrschende und Arbeitende waren damals unter den Germanen bekannt. Sie bildeten freie Stämme und Geschlechter, die lange in Europa umherwanderten, bis sie sich erst zeitweise, schließlich dauernd ansiedelten. Die erste Kultivierung des Landes ist nämlich in Deutschland, wie von Maurer nachwies, nicht von einzelnen, sondern von ganzen Geschlechtern und Stämmen ausgegangen, wie in Island von größeren Gesellschaften, welche frändalid und skulldalid – etwa Freundschaften und Gefolgschaften – genannt wurden. Die ältesten Nachrichten über die alten Germanen, die auf uns von den Römern gekommen sind, sowie die Prüfung der überlieferten Einrichtungen verbürgen die Wahrheit dieser Auffassung. Herumziehende Hirtenvölker waren es, die Deutschland zuerst bevölkerten. Wie bei anderen Nomaden, so war zwar auch bei ihnen Viehzucht und also der Besitz reichlicher Weide die Hauptsache. Indessen konnten denn doch auch sie in die Länge ohne Ackerbau ebensowenig bestehen, wie dies bei anderen Wandervölkern älterer und neuerer Zeit der Fall war. Und gerade in diesem Zustand der mit dem Ackerbau vereinigten Nomadenwirtschaft, wobei jedoch die Viehzucht als Hauptsache, der Feldbau aber als etwas Untergeordnetes erschien, befanden sich zu Julius Cäsars Zeiten, also etwa vor 1000 Jahren, von den ihm bekannt gewordenen germanischen Völkerschaften die Sueven oder Schwaben. Ähnliche Zustände, Sitten und Einrichtungen wurden aber auch bei den Franken, Alemannen, Vandalen und anderen germanischen Stämmen festgestellt. Nach zusammenhaltenden Stämmen und Geschlechtern siedelten sich alle die germanischen Völkerschaften, und zwar anfangs auf kurze Zeit, an, bauten das Land und zogen wieder weiter, sobald mächtigere Stämme vor-oder rückwärts drängten oder die Weide nicht mehr zureichte. Erst als die wandernden Stämme zur Ruhe gelangt waren und keiner den anderen mehr drängte, blieben sie längere Zeit in diesen Niederlassungen und erhielten so nach und nach feste Wohnsitze. Die Ansiedelung geschah aber, ob in frühester oder späterer Zeit, ob auf freiem Boden oder auf alten römischen oder slawischen Besitzungen, in ganzen Stämmen und Geschlechtern. Dabei nahm je ein Stamm und in jedem Stamme je ein Geschlecht ein bestimmtes Gebiet ein, das dann allen Betreffenden insgemein gehörte. Mein und Dein kannten die alten Germanen in bezug auf den Grund und Boden nicht. Jedes Geschlecht bildete vielmehr bei der Ansiedlung eine sogenannte Markgenossenschaft, die gemeinsam das ganze

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