Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 584

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zuerst nicht die aufkommende neue Produktionsweise, sondern ihr Schrittmacher: der mächtige Aufschwung des Handels. Es ist auch in den wichtigsten Sitzen des Welthandels am Ausgang des Mittelalters: in den reichen italienischen Handelsrepubliken am Mittelmeer, in Spanien, wo die ersten Fragen der Nationalökonomie und die ersten Versuche zu ihrer Beantwortung auftauchen.

Was ist Reichtum? Wodurch werden Staaten reich, wodurch arm gemacht? Dies war das neue Problem, nachdem die alten Begriffe der feudalen Gesellschaft in dem Strudel neuer Verhältnisse ihre überlieferte Gültigkeit verloren hatten. Reichtum ist Gold, für das man alles kaufen kann. Also schafft der Handel Reichtum. Also werden die Staaten reich, die in der Lage sind, viel Gold einzuführen und keines aus dem Lande herauszulassen. Also müssen Welthandel, Kolonialeroberungen im neuen Weltteil, Manufakturen, die Ausfuhrartikel herstellen, vom Staate gefördert, die Einfuhr fremder Produkte, die das Gold aus dem Lande lockt, verboten werden. Dies war die erste nationalökonomische Lehre, die schon am Ausgang des 16. Jahrhunderts in Italien auftaucht und im 17. Jahrhundert in England, in Frankreich zur großen Geltung kommt. Und so roh diese Lehre noch ist, so bietet sie doch den ersten schroffen Bruch mit der Begriffswelt der feudalen Naturalwirtschaft, die erste kühne Kritik an ihr, die erste Idealisierung des Handels, der Warenproduktion, und in dieser Form – des Kapitals, endlich das erste Programm einer Staatspolitik nach dem Herzen der aufstrebenden jungen Bourgeoisie.

Bald schiebt sich an Stelle des Kaufmanns der warenproduzierende Kapitalist in den Mittelpunkt, aber noch vorsichtig, unter der Maske des schäbigen Dieners im Vorzimmer der feudalen Herrschaften. Reichtum ist mitnichten Gold, das ja nur der Vermittler im Handel mit Waren ist, verkünden die französischen Aufklärer im 18. Jahrhundert. Welche kindische Verblendung, im gleißenden Metall das Glückspfand der Völker und Staaten zu sehen! Kann mich das Metall sättigen, wenn ich Hunger spüre, kann es mich vor Kälte schützen, wenn ich nackt friere? Litt nicht der persische König Darius mit Goldschätzen in seiner Hand Höllenqualen des Durstes im Felde, und hätte er sie nicht willig für einen Schluck Wasser hingegeben? Nein, Reichtum sind all die Geschenke der Natur an Nahrung und Stoff, womit wir alle, König wie Bettler, unsere Bedürfnisse befriedigen. Je üppiger die Bevölkerung ihre Bedürfnisse befriedigt, je reicher auch der Staat, weil um so mehr auch an Steuer für ihn abfallen kann. Wer entlockt aber der Natur das Korn zum Brot, die Faser, woraus wir unsere Kleidung spinnen, das Holz und das Erz, woraus wir unser Haus und

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