Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 574

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und Her-Reden in dem Beschluß, eine Enquete, eine Umfrage, über die vorhandene Zahl der Arbeitslosen vorzunehmen. Man beschränkt sich in der Hauptsache darauf, den jeweiligen Stand des Übels zu messen, wie man bei Überschwemmungen den Pegel des Wassers mißt, und im besten Falle durch schwächliche Palliativmittel in Gestalt von Arbeitslosenunterstützung – zumeist auf eigene Kosten der beschäftigten Arbeiter – die Wirkungen des Übels etwas zu mildern, ohne auch nur einen Versuch zu machen, das Übel selbst zu beseitigen.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte der große Prophet der englischen Bourgeoisie, der Pfaffe Malthus, mit der ihm eigenen herzerfrischenden Brutalität den Grundsatz proklamiert: „Wer in einer bereits in Besitz genommenen Welt geboren ist, hat, falls er von seinen Verwandten, an die er Forderungsrechte hat, keine Existenzmittel erlangen kann und falls die Gesellschaft seine Arbeit nicht braucht, kein Anrecht auf die geringste Menge Nahrungsmittel, und er hat tatsächlich auf dieser Welt nichts zu schaffen. An dem großen Bankett der Natur ist für ihn kein Tisch gedeckt. Die Natur bedeutet ihn, sich zu drücken, und sie vollzieht rasch ihren eigenen Befehl.“[1] Die heutige offizielle Gesellschaft mit der ihr eigenen „sozialreformerischen“ Heuchelei verpönt so krasse Offenherzigkeiten. Tatsächlich aber läßt sie schließlich den arbeitslosen Proletarier, „dessen Arbeit sie nicht braucht“, sich in dieser oder jener Weise, rasch oder langsam, von dieser Welt „drücken“, worüber die Zahlen der zunehmenden Krankheiten, der Säuglingssterblichkeit, der Verbrechen gegen das Eigentum während jeder großen Krise quittieren.

Gerade der von uns gebrauchte Vergleich der Arbeitslosigkeit mit einer Überschwemmung zeigt sogar die auffallende Tatsache, daß wir Elementarereignissen physischer Natur an sich weniger machtlos gegenüberstehen als unseren eigenen, rein gesellschaftlichen, rein menschlichen Angelegenheiten! Die periodischen Wasserüberschwemmungen, die im Frühling im Osten Deutschlands so ungeheuren Schaden anrichten, sind in letzter Linie nur eine Folge der ganz verwahrlosten Wasserwirtschaft, die wir jetzt führen. Die Technik gibt selbst in ihrem heutigen Stand bereits ausreichende Mittel zum Schutze der Landwirtschaft vor der Wassergewalt, ja zur Nutzbarmachung dieser Gewalt in die Hand, bloß sind diese Mittel nicht anders anwendbar als auf der höchsten Stufenleiter einer großen zusammenhängenden, rationellen Wasserwirtschaft, die das ganze heimge-

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[1] Siehe Thomas Robert Malthus: An Essay on the Principle of Population, as it Affects the Future Improvement of Society, with Remarks on the Speculations of Mr. Godwin, M. Condorent, and other Writers, London 1803, S. 531 f.