Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 573

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welche die moderne Krise ausmachen, nicht ein einziges Element, das außerhalb des menschlichen Tuns liegen würde. Es ist also niemand anders als die menschliche Gesellschaft selbst, die die Krise periodisch hervorbringt. Und doch wissen wir gleichzeitig, daß die Krise eine wahre Geißel für die moderne Gesellschaft ist, daß sie mit Schrecken erwartet und mit Verzweiflung ertragen wird, daß sie von niemand gewollt, herbeigewünscht wird. Denn abgesehen von einzelnen Börsenwölf en, die sich bei einer Krise auf anderer Kosten rasch zu bereichern trachten, dabei aber häufig selbst hereinfallen, ist die Krise für alle zum mindesten eine Gefahr oder eine Störung. Niemand will die Krise, und doch kommt sie. Die Menschen schaffen sie mit eigenen Händen, und doch wollen sie sie um nichts in der Welt haben. Hier haben wir in der Tat ein Rätsel des Wirtschaftslebens vor uns, das uns keiner von den Beteiligten zu erklären weiß. Der mittelalterliche Bauer auf seiner kleinen Parzelle produzierte zu einem Teil, was sein Grundherr, zum andern Teil, was er selbst wollte und brauchte: Korn und Vieh, Lebensmittel für sich und seine Familie. Der große Grundherr im Mittelalter ließ für sich produzieren, was er wollte und brauchte: Korn und Vieh, ,gute Weine und feine Kleider, Lebensmittel und Luxusgegenstände für sich und seinen Hofhalt. Die heutige Gesellschaft produziert aber, was sie weder will noch brauchen kann: Krisen; sie produziert von Zeit zu Zeit Lebensmittel, die sie nicht verwenden kann; sie leidet periodisch Hungersnot bei ungeheuren Speichern unverkäuflicher Produkte. Das Bedürfnis und die Befriedigung, die Aufgabe und das Resultat der Arbeit decken sich nicht mehr, zwischen ihnen steckt etwas Unklares, Rätselhaftes.

Nehmen wir ein anderes, allgemein bekanntes, den Arbeitern aller Länder allzugut bekanntes Beispiel: die Arbeitslosigkeit.

Die Arbeitslosigkeit ist nicht mehr, wie die Krise, ein Kataklismus, der die Gesellschaft von Zeit zu Zeit heimsucht: Sie ist heute in größerem oder geringerem Grade eine ständige alltägliche Begleiterscheinung des Wirtschaftslebens geworden. Die bestorganisierten und bestbezahlten Arbeiterkategorien, die ihre Listen der Arbeitslosen führen, notieren eine ununterbrochene Kette von Zahlen für jedes Jahr und für jeden Monat und jede Woche im Jahre; diese Zahlen unterliegen starken Schwankungen, sie versiegen aber niemals gänzlich. Wie machtlos die ,heutige Gesellschaft der Arbeitslosigkeit, dieser furchtbaren Geißel der Arbeiterklasse, gegenübersteht, zeigt sich jedesmal, wenn der Umfang dieses Übels so groß wird, daß er die gesetzgebenden Körper zwingt, sich mit ihm zu befassen. Der regelmäßige Verlauf solcher Verhandlungen gipfelt nach langem Hin-

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