Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 575

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suchte Gebiet umbauen, Ackerflächen und Wiesen entsprechend verlegen, Dämme und Schleusen errichten, Flüsse regulieren müßte. Diese große Reform wird freilich nicht in Angriff genommen, teils weil weder Privatkapitalisten noch der Staat für eine solche Unternehmung die Mittel hergeben wollen, teils weil sie auf dem großen Gebiete, das in Betracht käme, auf die Schranken der verschiedensten privaten Bodenbesitzrechte stoßen würde. Die Mittel jedoch, um der Wassergefahr zu begegnen und das rasende Element zu fesseln, hat auch die heutige Gesellschaft schon in der Hand, wenn sie sie gleich nicht zu gebrauchen imstande ist. Ein Mittel gegen die Arbeitslosigkeit jedoch ist in der heutigen Gesellschaft noch nicht erfunden. Und doch ist es kein Element, keine physische Naturerscheinung, keine übermenschliche Gewalt, sondern ein rein menschliches Produkt der wirtschaftlichen Verhältnisse. Und auch hier wieder stehen wir also vor einem ökonomischen Rätsel: vor einer Erscheinung, die niemand beabsichtigt, niemand bewußt anstrebt und die sich dennoch mit der Regelmäßigkeit einer Naturerscheinung einstellt, gewissermaßen über die Köpfe der Menschen hinweg.

Aber wir brauchen gar nicht zu solchen auffallenden Erscheinungen des heutigen Lebens wie Krise oder Arbeitslosigkeit, also nicht bloß zu Kalamitäten und Fällen außerordentlicher Natur zu greifen, die nach der landläufigen Vorstellung in dem gewöhnlichen Lauf der Dinge eine Ausnahme bilden. Nehmen wir ein allergewöhnlichstes Beispiel aus dem täglichen Leben, das sich tausendmal in allen Ländern wiederholt: die Preisschwankungen der Waren. Jedes Kind weiß, daß die Preise aller Waren nicht etwas Festes und Unveränderliches darstellen, sondern im Gegenteil fast jeden Tag, ja oft jede Stunde hinauf- oder heruntergehen. Nehmen wir eine beliebige Zeitung in die Hand, schlagen wir den Bericht von der Produktenbörse auf, und wir werden über die Preisbewegung des vergangenen Tages lesen: Weizen – vormittag, Stimmung schwach, um die Mittagszeit etwas lebhafter, gegen Schluß der Börse ziehen die Preise an, oder auch umgekehrt. Dasselbe bei Kupfer und Eisen, Zucker und Rüböl. Und dasselbe bei den Aktien der verschiedenen Industrieunternehmungen, bei. staatlichen und privaten Wertpapieren an der Effektenbörse. Die Preisschwankungen sind eine unaufhörliche, alltägliche, ganz „normale“ Erscheinung des heutigen Wirtschaftslebens. Durch diese Preisschwankungen vollzieht sich aber täglich und stündlich eine Veränderung im Vermögensstand der Besitzer all dieser Produkte und Wertpapiere. Steigen die Preise der Baumwolle, so wächst momentan das Vermögen aller Händler und Fabrikanten, die Baumwollbestände auf ihren Lagern vorrätig haben; sin-

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