Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 561

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-5/seite/561

England seine Baumwollprodukte ausführte, entsteht nach und nach eine eigene Baumwollindustrie. Schon 1844 spielen sich Hungeraufstände der Handweber in Schlesien und Böhmen als die ersten Vorboten der Märzrevolution[1] ab. Auch in den eigenen Kolonien Englands entsteht eine einheimische Industrie. Die Baumwollfabriken Bombays machen bald den englischen Konkurrenz und helfen in den achtziger Jahren das Monopol Englands auf dem Weltmarkt brechen.

Endlich in Rußland inauguriert der Aufschwung einer eigenen Baumwollfabrikation in den siebziger Jahren die Ära der Großindustrie und des Schutzzolls. Zur Umgehung der hohen Zollschranke werden aus Sachsen, aus dem Vogtlande ganze Fabriken mitsamt ihrem Personal nach Russisch-Polen[2] übertragen, wo neue Fabrikzentren, Łódź, Zgierz, mit kalifornischer Plötzlichkeit zu großen Städten anwachsen. Zu Anfang der achtziger Jahre erzwingen die Arbeiterunruhen in dem Baumwolldistrikt Moskau-Wladimir die ersten Arbeiterschutzgesetze des Zarenreiches. Im Jahre 1896 veranstalten 60 000 Arbeiter der Petersburger Baumwollfabriken den ersten Massenstreik in Rußland.[3] Und neun Jahre später, im Juni 1905, errichten im dritten Zentrum der Baumwollindustrie, in Łódź, 100 000 Arbeiter, darunter die deutschen mit an der Spitze, die ersten Barrikaden der großen russischen Revolution ...[4]

Wir haben hier in knappen Zügen 140 Jahre Geschichte eines modernen Industriezweiges vor uns, eine Geschichte, die sich durch alle fünf Weltteile windet, Millionen von Menschenleben hinüberschleudert, hier als Krise, dort als Hungersnot ausbricht, bald als Krieg, bald als Revolution aufflammt, allenthalben auf ihrem Wege Goldberge von Reichtum und Abgründe des Elends zurückläßt – ein breiter blutgefärbter Schweißstrom der menschlichen Arbeit.

Das sind Zuckungen des Lebens, das sind Fernwirkungen, die bis an

Nächste Seite »



[1] Die Märzrevolution begann am 27. Februar 1848 in Baden, breitete sich in der ersten Märzhälfte über ganz Deutschland aus und fand ihren Abschluß in den Barrikadenkämpfen des 18./19. März in Berlin. Die erfolgreichen revolutionären Aktionen der Volksmassen zwangen die Reaktion zu demokratischen Konzessionen, doch blieb die Revolution 1848/49 durch den Verrat der Bourgeoisie unvollendet.

[2] Als Russisch-Polen wurde das 1815 durch den Wiener Kongreß geschaffene Königreich Polen bezeichnet, das bis 1915 bestand, durch Personalunion mit Rußland verbunden war und unter zaristischer Herrschaft litt.

[3] Vom 27. Mai bis 18. Juni 1896 hatten unter Führung des Kampfbundes zur Befreiung der Arbeiterklasse ungefähr 30 000 Textilarbeiter Petersburgs gestreikt. Sie forderten Bezahlung des Arbeitsausfalls an den Krönungsfeiertagen Nikolaus’ II. und statt des 13-Stunden-Tages den 10,5-Stunden-Tag. Die Forderung nach Verkürzung des Arbeitstages wurde seitdem zur ersten Klassenforderung des russischen Proletariats.

[4] Punkte in der Quelle. – Vom 9. bis 11. Juli 1905 dauerten die Barrikadenkämpfe der Textilarbeiter von Łódź gegen die zaristische Selbstherrschaft.