Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 553

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wirtschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse, die nicht durch politische Gewaltherrschaft begründet sind. Rußland führt jährlich um 1 Milliarde Mark mehr Waren aus als ein. Ist es etwa der große „Überfluß“ an Bodenprodukten über die Bedürfnisse der eigenen „Volkswirtschaft“, was diesen gewaltigen Warenstrom jährlich aus dem russischen Reich wegdräniert? Aber der russische Muschik, dessen Korn in dieser Weise aus dem Lande geführt wird, krankt bekanntlich an Skorbut vor Unterernährung und verzehrt häufig Brot mit reichlicher Zutat an Baumrinde! Die massenhafte Ausfuhr seiner Brotfrucht ist eben unter Vermittlung eines zweckentsprechenden Finanz- und Steuersystems im Innern eine blanke Lebensnotwendigkeit für den russischen Staat, um dessen Verpflichtungen aus auswärtigen Anleihen nachzukommen. Rußlands staatlicher Apparat wird seit dem famosen Zusammenbruch im Krimkriege[1] und seit seiner Modernisierung durch Reformen Alexanders II.[2] in hohem Maße durch geliehenes Kapital aus Westeuropa, in der Hauptsache aus Frankreich, bestritten. Um auf die französischen Anleihen Zinsen zahlen zu können, muß Rußland jährlich Massen von Weizen, Holz, Flachs, Hanf, Rindern und Geflügel an England, Deutschland, die Niederlande verkaufen. Der enorme Überschuß der russischen Ausfuhr repräsentiert somit den Tribut des Schuldners an den Gläubiger, ein Verhältnis, dem auf seiten Frankreichs ein großer Überschuß an Einfuhr entspricht, der nichts anderes als die vom Leihkapital eingeheimsten Zinsen darstellt. Aber in Rußland selbst zieht sich die Kette der ökonomischen Zusammenhänge weiter. Das geliehene französische Kapital dient seit Jahrzehnten in der Hauptsache zu zwei Zwecken: Eisenbahnbau mit Staatsgarantien und Militärrüstungen. Zur Bedienung beider ist in Rußland seit den siebziger Jahren – unter dem, Schutze des Hochschutzzollsystems – eine starke Großindustrie entstanden. Das Leihkapital aus dem alten kapitalistischen Lande Frankreich hat in Rußland einen jungen Kapitalismus großgezogen, der aber seinerseits nachhaltig der Unterstützung und Ergänzung durch eine bedeutende Einfuhr an Maschinen und anderen Produktionsmitteln aus technisch führenden Industrieländern, England und Deutschland, bedarf. So schlingt sich zwischen Rußland, Frankreich, Deutschland, England ein Band ökonomischer Zusammenhänge, von denen der Warenaustausch nur das letzte knappe Wort ist.

Doch ist die Mannigfaltigkeit der Zusammenhänge damit noch nicht erschöpft. Ein Land wie die Türkei oder China gibt dem professoralen

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[1] Siehe S. 306, Fußnote 2.

[2] Siehe S. 242, Fußnote 1.