Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 518

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-5/seite/518

den theoretischen wie den politischen Generalstab der Sozialdemokratie mattgesetzt hatte. Genau wie der geschlossene stolze Bau der offiziellen deutschen Sozialdemokratie sich bei der ersten welthistorischen Probe als Potemkinsches Dorf erwiesen, ebenso hat sich die scheinbare theoretische „Sachverständigkeit“ und Unfehlbarkeit des offiziellen Marxismus, der zu jeder Praxis der Bewegung den Segen gab, bloß als eine pomphafte Kulisse herausgestellt, die hinter unduldsamer und anmaßender Dogmenstrenge innere Unsicherheit und Aktionsunfähigkeit barg. Der öden Routine, die sich nur in den ausgefahrenen Geleisen der „alten bewährten Taktik“, d. h. des Nichts-als-Parlamentarismus zu bewegen wußte, entsprach das theoretische Epigonentum, das sich an die Formeln des Meisters klammert, indes es den lebendigen Geist seiner Lehre verleugnet. Wir haben im Vorhergehenden der Proben dieser Zerfahrenheit im Areopag der „Sachverständigen“ einige gesehen.

Aber der Zusammenhang mit der Praxis ist in unserem Falle noch greifbarer, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Es handelt sich in letzter Linie um zwei verschiedene Methoden der Bekämpfung des Imperialismus.

Die Marxsche Analyse der Akkumulation war zu einer Zeit entworfen, als der Imperialismus noch nicht die Weltbühne betreten hatte, und die Voraussetzung, die Marx jener Analyse zugrunde legt: die endgültige absolute Herrschaft des Kapitals in der Welt, schließt gerade von vornherein den Prozeß des Imperialismus aus. Aber – darin liegt der Unterschied zwischen Irrtümern eines Marx und den platten Schnitzern seiner Epigonen – selbst der Irrtum ist in diesem Falle befruchtend und fortleitend. Das im zweiten Bande des „Kapitals“ aufgestellte und offengelassene Problem: zu zeigen, wie Akkumulation bei ausschließlicher Herrschaft des Kapitalismus vollzogen wird, ist unlösbar. Die Akkumulation ist eben unter diesen Bedingungen unmöglich. Man braucht aber nur den scheinbar starren theoretischen Widerspruch, so wie es dem Geiste der ganzen Marxschen Lehre und Denkweise entspricht, in geschichtliche Dialektik zu übersetzen, so wird der Widerspruch des Marxschen Schemas zum lebendigen Spiegel der Weltlaufbahn des Kapitals, seines Glücks und Endes.

Die Akkumulation ist in einem ausschließlich kapitalistischen Milieu unmöglich. Daher vom ersten Moment der Kapitalentwicklung der Drang zur Expansion auf nichtkapitalistische Schichten und Länder, der Ruin des Handwerks und des Bauerntums, die Proletarisierung der Mittelschichten, die Kolonialpolitik, „Erschließungspolitik“, Kapitalausfuhr. Nur durch ständige Expansion auf neue Produktionsdomänen und neue Länder ist

Nächste Seite »