Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 453

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-5/seite/453

sich etwas ganz Neues dar. Für die anderen „Sachverständigen“ war jede Frage nach gesellschaftlicher, ökonomischer Basis der Akkumulation glatter Unsinn, „in der Tat schwer zu ergründen“. Bauer hingegen konstruiert eine ganze Theorie, um diese Frage zu beantworten.

Doch die Bauersche Bevölkerungstheorie ist nicht bloß für die anderen Kritiker meines Buches eine Neuigkeit, in der ganzen marxistischen Literatur taucht sie zum erstenmal auf. Weder in den drei Bänden des Marxschen „Kapitals“ noch in den „Theorien über den Mehrwert“, noch in den sonstigen Schriften Marxens findet sich eine Spur der Bauerschen Bevölkerungstheorie als Grundlage der Akkumulation.

Sehen wir ferner zu, wie Karl Kautsky seinerzeit den zweiten Band des „Kapitals“ in der „Neuen Zeit“ angezeigt und besprochen hat.[1] In der ausführlichen Inhaltsangabe des zweiten Bandes behandelt Kautsky die ersten Abschnitte über die Zirkulation in eingehendster Weise, führt sämtliche Formeln und Zeichen, wie sie Marx dabei gebrauchte, getreu an, dabei widmete er dem ganzen Abschnitt über die „Reproduktion und Zirkulation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals“, dem wichtigsten und originellsten Teil des Bandes, von den 20 Druckseiten, auf denen er den Band behandelt, ganze drei Seiten. Auf diesen drei Seiten behandelt Kautsky jedoch ausschließlich – natürlich mit genauer Wiedergabe der unvermeidlichen „Schemata“ – die einleitende Fiktion der „einfachen Reproduktion“, d. h. einer kapitalistischen Produktion ohne Profitmacherei, die Marx selbst als bloßen theoretischen Ausgangspunkt für die Untersuchung des eigentlichen Problems: der Akkumulation des Gesamtkapitals, betrachtet. Diese letztere erledigt Kautsky nun buchstäblich mit den folgenden zwei Zeilen: „Weitere Komplikationen bringt endlich die Akkumulation des Mehrwerts, die Erweiterung des Produktionsprozesses.“ Punktum. Kein Sterbenswort mehr damals, gleich nach dem Erscheinen des zweiten Bandes des „Kapitals“, und kein Sterbenswort seitdem in den verflossenen 30 Jahren. Also nicht bloß finden wir auch hier keine Spur der Bauerschen Bevölkerungstheorie, sondern Kautsky ist der ganze Abschnitt über die Akkumulation nicht im mindesten aufgefallen. Weder bemerkt er hier irgendein besonderes Problem, zu dessen Lösung Bauer jetzt „eine einwandfreie Grundlage“ geschaffen hat, noch auch die Tatsache, daß Marx hier seine eigene kaum begonnene Untersuchung mitten im Wort abbricht, ohne eine Antwort auf die von ihm selbst wiederholt gestellte Frage gegeben zu haben.

Nächste Seite »



[1] Karl Kautsky: Das „Elend der Philosophie” und „Das Kapital”. In: Die Neue Zelt (Stuttgart), 4. Jg. 1886, S. 7–19, S. 49–58, S. 117–129 u. S. 157–165.