Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 446

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der Gegensätze in der Gesellschaft und Unhaltbarkeit der Zustände hervorzubringen, daß sie dem herrschenden System ein Ende bereiten müssen. Aber diese sozialen und politischen Gegensätze sind selbst in letzter Linie nur Produkt der ökonomischen Unhaltbarkeit des kapitalistischen Systems, und sie schöpfen gerade aus dieser Quelle ihre zunehmende Verschärfung just in dem Maße, wie jene Unhaltbarkeit greifbar wird.

Nehmen wir hingegen mit den „Sachverständigen“ die ökonomische Schrankenlosigkeit der kapitalistischen Akkumulation an, dann schwindet dem Sozialismus der granitene Boden der objektiven historischen Notwendigkeit unter den Füßen. Wir verflüchtigen uns alsdann in die Nebel der vormarxschen Systeme und Schulen, die den Sozialismus aus bloßer Ungerechtigkeit und Schlechtigkeit der heutigen Welt und aus der bloßen revolutionären Entschlossenheit der arbeitenden Klassen ableiten wollten.[1]

Dritte Konsequenz. Wenn die kapitalistische Produktion einen genügenden Markt für sich selbst bildet und jegliche Erweiterung um den ganzen akkumulierten Wert gestattet, dann wird noch eine andere Erscheinung der modernen Entwicklung rätselhaft: die Hast und Jagd nach entferntesten Absatzmärkten und die Kapitalausfuhr, d. h. die markantesten Erscheinungen des heutigen Imperialismus. In der Tat unbegreiflich! Wozu der Lärm? Wozu die Eroberung der Kolonien, wozu die Opiumkriege der vierziger und sechziger Jahre[2] und die heutigen Balgereien um Kongosümpfe, um mesopotamische Wüsten[3]? Das Kapital bleibe doch zu Hause und nähre sich redlich. Krupp produziere doch munter für Thyssen, Thyssen für Krupp, mögen sie doch ihre Kapitalien nur immer in die

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[1] Oder aber bleibt der etwas nebelhafte Trost eines kleinen „Sachverständigen” aus der „Dresdner Volkszeitung” übrig, der nach gründlicher Vernichtung meines Buches erklärt, der Kapitalismus werde schließlich „an dem Fall der Profitrate” zugrunde gehen.1 Wie sich der gute Mann eigentlich das Ding vorstellt, ob so, daß an einem gewissen Punkte die Kapitalistenklasse, vor Verzweiflung ob der Niedrigkeit der Profitrate, sich insgesamt aufhängt, oder ob sie etwa erklärt, bei solchen lumpigen Geschäften verlohne sich die Plackerei nicht mehr, worauf sie die Schlüssel selbst dem Proletariat abliefert? Wie dem sei, der Trost wird leider durch einen einzigen Satz von Marx in Dunst aufgelöst, nämlich durch den Hinweis, daß „für große Kapitale der Fall der Profitrate durch Masse aufgewogen”,werde. Es hat also mit dem Untergang des Kapitalismus am Fall der Profitrate noch gute Wege, so etwa bis zum Erlöschen der Sonne.

1 Die Akkumulation des Kapitals. In: Dresdner Volkszeitung, Nr. 17 vom 22. Januar 1913.

2 Siehe Karl Marx: Das Kapital, Dritter Band. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 25, S. 258.

[2] Siehe S. 206, Fußnote 1.

[3] Die Gebiete um den Kongo wurden ab 1916 vom britischen Imperialismus beherrscht, nachdem im Juli 1915 englische Truppen dem deutschen Imperialismus Südwestafrika abgenommen, 1916 die deutschen Kolonialtruppen in Kamerun zur Kapitulation gezwungen und an die Südgrenze von Ostafrika zurückgedrängt hatten. In Mesopotamien mußte im April 1916 ein englisches Expeditionskorps vor den Türken kapitulieren.