Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 445

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über sich selbst hinauswachsen? Sie könnte es so gut, wie jemand über den eigenen Schatten springen kann. Die kapitalistische Krise wird ein unerklärliches Phänomen. Oder es bleibt dann für sie nur eine Erklärung übrig: Die Krise ergibt sich nicht aus dem Mißverhältnis zwischen Ausdehnungsfähigkeit der kapitalistischen Produktion und Ausdehnungsfähigkeit des Absatzmarktes, sondern lediglich aus Disproportionalität zwischen verschiedenen Zweigen der kapitalistischen Produktion. Diese könnten an sich schon genügende Warenabnehmer füreinander sein, bloß sei von verschiedenen Dingen, infolge der Anarchie, nicht die richtige Proportion, von den einen zuviel, von den anderen zuwenig hergestellt worden. Damit kehrten wir Marx den Rücken und landeten letzten Endes bei dem von Marx so weidlich verspotteten Erzvater der Vulgärökonomie, der Manchesterlehre[1] und der bürgerlichen Harmonien, dem „Jammermenschen“ Say, der schon 1803 das Dogma verkündet hat, daß von allen Dingen zuviel produziert werden könne, sei ein absurder Begriff; es könne nur partielle, aber keine allgemeinen Krisen geben: Wenn deshalb eine Nation von einer Art Produkte zuviel habe, so beweise das nur, daß sie von irgendeiner anderen Art zuwenig produziert habe.

Zweite Konsequenz. Wenn die kapitalistische Produktion für sich selbst einen genügenden Absatzmarkt bildet, dann ist die kapitalistische Akkumulation (objektiv genommen) ein schrankenloser Prozeß. Da die Produktion auch dann, wenn die ganze Welt restlos vom Kapital beherrscht, wenn die ganze Menschheit bloß aus Kapitalisten und Lohnproletariern bestehen wird, ungestört weiterwachsen, d. h. die Produktivkräfte schrankenlos entwickeln kann, da der ökonomischen Entwicklung des Kapitalismus somit keine Schranken gesetzt sind, so bricht damit der eine spezifisch Marxsche Grundpfeiler des Sozialismus zusammen. Nach Marx ist die Rebellion der Arbeiter, ihr Klassenkampf – und darin liegt gerade die Bürgschaft seiner siegreichen Kraft –, bloß ideologischer Reflex der objektiven geschichtlichen Notwendigkeit des Sozialismus, die sich aus der objektiven wirtschaftlichen Unmöglichkeit des Kapitalismus auf einer gewissen Höhe seiner Entwicklung ergibt. Selbstverständlich ist damit nicht gesagt – solche Vorbehalte aus dem Abc des Marxismus sind, wie wir sehen werden, für meine „Sachverständigen“ immer noch unentbehrlich –, daß der historische Prozeß bis zum letzten Rande dieser ökonomischen Unmöglichkeit ausgeschöpft werden müsse oder auch nur könne. Die objektive Tendenz der kapitalistischen Entwicklung auf jenes Ziel hin genügt, um schon viel eher eine derartige soziale und politische Verschärfung

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[1] Siehe S. 197, Fußnote 1.