Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 440

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Im Kreise nüchterner Menschen würde man dem Besserwisser wahrscheinlich achselzuckend bedeuten, daß er ins Narrenhaus oder in die Kinderstube gehöre. Im Kreise der offiziellen Hüter des Marxismus bilden solche Besserwisser den Areopag der „Sachverständigen”, die anderen Leuten Zensuren erteilen, ob sie „Wesen, Zweck und Bedeutung der Marxschen Schemata” verstanden oder mißverstanden haben.

Was ist nun der Kernpunkt der Auffassung, den die Schemata angeblich „beweisen”? Ich hatte den Einwand gemacht, zur Akkumulation gehört die Möglichkeit, in steigendem Maße Waren abzusetzen, um den darin enthaltenen Profit in Geld zu verwandeln. Erst dann ist fortschreitende Erweiterung der Produktion, also fortschreitende Akkumulation möglich. Wo finden die Kapitalisten als Gesamtklasse diesen steigenden Absatz? Darauf antworten meine Kritiker: Sie bilden diesen Absatzmarkt selbst. Indem sie die eigenen Betriebe immer mehr erweitern (oder neue gründen), brauchen sie eben selbst immer mehr Produktionsmittel für ihre Fabriken und Lebensmittel für ihre Arbeiter. Die kapitalistische Produktion ist sich selbst Absatzmarkt, dieser wächst also automatisch mit dem Wachstum der Produktion. Die Hauptfrage vom Kapitalstandpunkte ist aber: Kann auf diese Weise kapitalistischer Profit erzielt oder angesammelt werden? Nur dann könnte von Kapitalakkumulation die Rede sein.

Nehmen wir wiederum ein einfaches Beispiel: Kapitalist A produziert Kohle, Kapitalist B fabriziert Maschinen, Kapitalist C stellt Lebensmittel her. Mögen uns diese drei Personen die Gesamtheit der kapitalistischen Unternehmer vorstellen. Wenn B immer mehr Maschinen herstellt, kann A ihm immer mehr Kohle verkaufen und kann ihm deshalb immer mehr Maschinen abnehmen, die er im Bergbau verwendet. Beide brauchen immer mehr Arbeiter, und diese immer mehr Lebensmittel, also findet auch C immer größeren Absatz und wird dadurch seinerseits immer mehr Abnehmer sowohl für Kohle wie für Maschinen, die er für seinen Betrieb benötigt. So geht die Sache im Kreise und steigert sich immer mehr – solange wir in leerer Luft mit der Stange herumfahren. Fassen wir aber die Sache etwas konkreter.

Kapital akkumulieren heißt nicht immer größere Berge von Waren herstellen, sondern immer mehr Waren in Geldkapital verwandeln. Zwischen der Anhäufung des Mehrwertes in Waren und der Anwendung dieses Mehrwertes zur Erweiterung der Produktion liegt jedesmal ein entscheidender Sprung, der Salto mortale der Warenproduktion, wie ihn Marx nennt: der Verkauf gegen Geld. Hat dies vielleicht nur für den Einzelkapitalisten Geltung, nicht aber für die Gesamtklasse, für die Gesellschaft

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