Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 435

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xismus: ein Problem der Akkumulation gebe es nicht, alles sei schon bei Marx endgültig gelöst! Die merkwürdige Voraussetzung der Akkumulation im zweiten Bande hat sie nie gestört, sie hatten sie überhaupt gar nicht als etwas Besonderes bemerkt! Und jetzt, auf jenen Umstand aufmerksam gemacht, finden sie gerade diese Merkwürdigkeit ganz in der Ordnung, klammern sich hartnäckig an diese Vorstellung und schlagen wütend nach demjenigen, der ein Problem sehen will, wo der offizielle Marxismus jahrzehntelang nichts als Wohlgefallen an sich selbst empfunden hat!

Das ist ein so krasser Fall des Epigonentums, daß er nur in einem anekdotischen Vorkommnis aus den Kreisen des Zopfgelehrtentums seine Parallele findet: in der bekannten Geschichte der sogenannten „Blattversetzung“ der Kantschen „Prolegomena“.

Ein Jahrhundert lang stritt man sich in der philosophischen Welt heftig um die mannigfachen Rätsel der Kantschen Lehre und insbesondere auch der „Prolegomena“, es bildeten sich bei Deutung der Kantschen Lehre ganze Schulen, die einander in den Haaren lagen. Bis Professor Vaihinger wenigstens der dunkelsten dieser Rätsel eines in der einfachsten Weise von der Welt aufklärte, indem er darauf hinwies, daß ein Teil des Paragraphen 4 der „Prolegomena“, der zu dem übrigen Text des Kapitels in der Tat wie die Faust aufs Auge paßt, in den Paragraphen 2 gehöre, von dem er nur durch einen Druckfehler der Originalausgabe abgelöst und an eine falsche Stelle gebracht worden sei.[1] Jedem schlichten Leser der Schrift leuchtet heute die Sache auch sofort ein. Nicht so dem Zunftgelehrten, der ein Jahrhundert lang tiefsinnige Theorien auf einem Druckfehler aufbaute. Es fand sich auch richtig ein schwergelehrter Mann und Professor in Bonn, der in vier Artikeln der „Philosophischen Monatshefte“ empört nachwies, daß die „angebliche Blattversetzung“ gar nicht existiere, daß gerade mit dem Druckfehler der einzig richtige und unverfälschte Kant zum Ausdruck komme und daß, wer da Druckfehler aufzuspüren sich erdreiste, nicht die Bohne von Kants Philosophie begriffen habe.[2]

So ungefähr halten heute die „Sachverständigen“ an der Voraussetzung des zweiten Bandes des Marxschen „Kapitals“ und an den auf ihr errichteten mathematischen Schemata fest. Der Hauptzweifel meiner Kritik richtet sich darauf, daß mathematische Schemata in der Frage der Akkumulation überhaupt nichts beweisen können, da ihre historische Voraussetzung unhaltbar sei. Zur Antwort sagt man mir: Aber die Schemata lösen

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[1] Hans Vaihinger: Eine Blattversetzung in Kants Prolegomena. In: Philosophische Monatshefte (Leipzig). Jg. 1879, S. 321–332, u. ebenda, Jg. 1883, S. 401–416.

[2] J. H. Witte: Die angebliche Blattversetzung in Kants Prolegomena. In: Philosophische Monatshefte (Leipzig), Jg. 1883, S. 145–174 u. S. 597–614.