Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 433

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Marx selbst hat die Frage der Akkumulation des Gesamtkapitals nur gestellt, aber nicht mehr beantwortet. Er hat zwar als Voraussetzung seiner Analyse zunächst jene rein kapitalistische Gesellschaft genommen, hat aber die Analyse auf dieser Grundlage nicht nur nicht zu Ende geführt, sondern er hat sie gerade bei dieser Kardinalfrage abgebrochen. Er hat zur Veranschaulichung seiner Auffassung einige mathematische Schemata aufgestellt, aber ihre Deutung auf soziale praktische Möglichkeiten und ihre Nachprüfung von diesem Standpunkt kaum begonnen, als ihm durch Krankheit und Tod die Feder aus der Hand fiel.[1] Die Lösung dieses wie manches anderen Problems war offenbar für seine Schüler übriggeblieben, und meine „Akkumulation“ sollte ein Versuch nach dieser Richtung sein.

Die von mir unterbreitete Lösung mochte man nun für richtig oder falsch ansehen, sie kritisieren, anfechten, ergänzen, eine andere Lösung aufzeigen. Nichts von alledem geschah. Es erfolgte etwas ganz Unerwartetes: Die „Sachverständigen“ erklärten, es gäbe überhaupt kein Problem, das zu lösen wäre! Die Marxschen Darlegungen im zweiten Bande des „Kapitals“ seien eine ausreichende und erschöpfende Erklärung der Akkumulation, dort sei eben durch die Schemata klipp und klar nachgewiesen, daß das Kapital ausgezeichnet wachsen, die Produktion sich ausdehnen könne, wenn in der Welt keine andere als die kapitalistische existierte; sie sei für sich selbst Absatzmarkt, und nur meine totale Unfähigkeit, das Abc der Marxschen Schemata zu begreifen, konnte mich dazu verleiten, hier ein Problem zu erblicken!

Man bedenke:

Zwar dauern in der Nationalökonomie Kontroversen um das Problem der Akkumulation, um die Möglichkeit der Realisierung des Mehrwertes seit einem Jahrhundert: in den zwanziger Jahren in den Auseinandersetzungen Sismondis mit Say, Ricardo, MacCulloch, in den fünfziger Jahren zwischen Rodbertus und v. Kirchmann, in den achtziger und neunziger Jahren zwischen den russischen „Volkstümlern“[2] und Marxisten. Die hervorragendsten Theoretiker der Nationalökonomie in Frankreich, England, Deutschland, Rußland haben die Fragen immer wieder ventiliert, und zwar vor wie nach dem Erscheinen des Marxschen „Kapitals“. Das Problem ließ die Forscher nicht in Ruhe überall, wo unter dem Anstoß einer

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[1] In seinem Vorwort zum zweiten Band des „Kapitals” verwies Friedrich Engels darauf, daß das 21. Kapitel, „Akkumulation und erweiterte Reproduktion”, bereits eine von Karl Marx überarbeitete Fassung sei und damit „dem erweiterten Gesichtskreis des Verfassers entsprach”. Friedrich Engels: Vorwort [zu Karl Marx „Das Kapital”, Zweiter Band]. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke; Bd. 24, S. 12.

[2] Siehe S. 227, Fußnote 3.