Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 394

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der Form insgesamt „auf gesetzgeberischem Wege“ bestätigt wurden. In Italien war der Freihandel ein Requisit der Cavourschen Politik[1] und ihres Anlehnungsbedürfnisses an Frankreich. Schon 1870 wurde unter dem Drängen der öffentlichen Meinung eine Enquete eröffnet, die den Mangel an Rückhalt für die freihändlerische Politik in den Interessentenkreisen bloßgelegt hat. Endlich in Rußland war die freihändlerische Tendenz der 60er Jahre nur erst eine Einleitung zur Schaffung einer breiten Grundlage für die Warenwirtschaft und die Großindustrie: begleitete sie doch erst die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Herstellung eines Eisenbahnnetzes.[2]

So konnte der Freihandel als internationales System von vornherein nicht mehr als eine Episode in der Geschichte der Kapitalakkumulation bleiben. Schon aus diesem Grunde ist es verkehrt, die allgemeine Umkehr zum Schutzzoll seit Ende der 70er Jahre lediglich als eine Abwehrmaßregel gegen den englischen Freihandel erklären zu wollen.[3]

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[1] Graf Camillo von Cavour, Führer des gemäßigt-liberalen Flügels der Italienischen Nationalbewegung, setzte von 1850 bis 1861 als Handels- und Finanzminister sowie als Ministerpräsident des Königreiches Sardinien eine Reihe bürgerlicher Reformen durch.

[2] Die Revision des russischen Zolltarifs in liberalem Sinne 1857 und 1868, die endgültige Abtragung des wahnwitzigen Schutzzollsystems Kankrins, war eine Ergänzung und Äußerung des ganzen Reformwerkes, das durch das Debakel des Krimkrieges erzwungen wurde. Unmittelbar entsprach aber die Ermäßigung der Zölle vor allem den Interessen des adeligen Grundbesitzes, der sowohl als Konsument ausländischer Waren wie als Produzent des ins Ausland ausgeführten Getreides an einem ungehinderten Handelsverkehr Rußlands mit Westeuropa interessiert war. Hat doch die Verfechterin der landwirtschaftlichen Interessen, die Preie Ökonomische Gesellschaft, konstatiert: „Während der verflossenen 60 Jahre, von 1822 bis 1882, hat die größte Produzentin Rußlands, die Landwirtschaft, viermal unermeßlichen Schaden erleiden müssen, wodurch sie in eine äußerst kritische Lage gebracht wurde, und in allen vier Fällen lag die unmittelbare Ursache an maßlos hohen Zolltarifen. Umgekehrt ist die 32jährige Zeitperiode von 1845 bis 1877, während der gemäßigte Zölle bestanden, ohne solche Notstände abgelaufen, ungeachtet der drei Kriege und eines inneren Bürgerkrieges (gemeint ist der polnische Aufstand 1863 – R. L.), von denen jeder eine größere oder geringere Anspannung der Finanzkräfte des Staates bewirkte.“ (Memorandum der Kaiserl. Freien Ökonomischen Gesellschaft in Sachen der Revision des russischen Zolltarifs, Petersburg 1890, S. 148.) Wie wenig in Rußland bis in die jüngste Zeit die Verfechter des Freihandels oder wenigstens eines gemäßigten Schutzzolls als die Vertreter der Interessen des Industriekapitals betrachtet werden dürfen, beweist schon die Tatsache, daß die wissenschaftliche Stütze dieser freihändlerischen Bewegung, die genannte Freie Ökonomische Gesellschaft, noch in den 90er Jahren gegen den Schutzzoll gerade als gegen ein Mittel der „künstlichen Verpflanzung“ der kapitalistischen Industrie nach Rußland eiferte und im Geiste reaktionärer „Volkstümler“ den Kapitalismus als die Brutstätte des modernen Proletariats denunzierte, „jener Massen militärdienstuntauglicher, besitzloser und heimatloser Menschen, die nichts zu verlieren haben und die seit langer Zeit keinen guten Ruf genießen ...“. (l. c., S. 171.) Vgl. auch K. Lodyshenski: Geschichte des russischen Zolltarifs, Petersburg 1886, S. 239–258. – Im Original mit *.

[3] Auch Fr. Engels teilte diese Auffassung. In einem seiner Briefe an Nikolai-on schreibt er am 18. Juni 1892: „Englische Interessen vertretende Schriftsteller können es nicht verstehen, daß alle Welt es ablehnt, ihr Freihandelsbeispiel zu befolgen, und statt dessen Schutzzölle eingeführt hat. Natürlich wagen sie nicht zu sehen, daß dieses jetzt fast allgemeine Zollsystem ein – mehr oder weniger kluges und in manchen Fallen absolut dummes – Mittel der Selbstverteidigung gegen ebendenselben englischen Freihandel ist, der das englische Industriemonopol zu seiner höchsten Vollendung geführt hat. (Dumm z. B. im Falle Deutschlands, das unterm Freihandel ein großes Industrieland geworden ist und wo der Schutzzoll auf landwirtschaftliche Produkte und Rohstoffe ausgedehnt wird, was die Kosten der industriellen Produktion erhöht!) Ich betrachte dieses allgemeine Zurückgreifen auf den Schutzzoll nicht als einen bloßen Zufall, sondern als Reaktion gegen das untragbare Industriemonopol Englands; die Form dieser Reaktion mag, wie gesagt, unzuträglich sogar noch schlechter sein, aber die historische Notwendigkeit einer solchen Reaktion scheint mir klar und offensichtlich.“ (Briefe usw., S. 71.) [Friedrich Engels an Nikolai Franzewitsch Danielson in Petersburg, 18. Juni 1892. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 38, S. 365.] – [Fußnote im Original]