Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 393

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länder des Kontinents in jener Zeit noch vorwiegend agrarische Länder, ihre Großindustrie noch verhältnismäßig schwach entwickelt war. Das Freihandelssystem wurde vielmehr als Maßnahme der politischen Konstituierung der mitteleuropäischen Staaten durchgesetzt. In Deutschland war es in der Manteuffelschen und Bismarckschen Politik ein spezifisch preußisches Mittel, Österreich aus dem Bund und dem Zollverein herauszudrängen und das neue Deutsche Reich unter Preußens Führung zu konstituieren. Ökonomisch stützte sich der Freihandel hier nur auf die Interessen des Kaufmannskapitals, namentlich des am Welthandel interessierten Kapitals der Hansastädte, und auf agrarische Konsumenteninteressen; von der eigentlichen Industrie ließ sich die Eisenproduktion nur mit Mühe um die Konzession der Abschaffung der Rheinzölle für den Freihandel gewinnen, die süddeutsche Baumwollindustrie aber blieb unversöhnlich in der schutzzöllnerischen Opposition. In Frankreich waren die Meistbegünstigungsverträge, die die Grundlage für das Freihandelssystem in ganz Europa gelegt haben, von Napoleon III. ohne und gegen die kompakte schutzzöllnerische Mehrheit des Parlaments aus Industriellen und Agrariern abgeschlossen. Der Weg der Handelsverträge selbst wurde von der Regierung des Zweiten Kaiserreichs nur als ein Notbehelf eingeschlagen und von England als solcher akzeptiert, um die parlamentarische Opposition Frankreichs zu umgehen und hinter dem Rücken der gesetzgebenden Körperschaft auf internationalem Wege den Freihandel durchzusetzen. Mit dem ersten grundlegenden Vertrag zwischen Frankreich und England wurde die öffentliche Meinung in Frankreich einfach überrumpelt.[1] Das alte Schutzzollsystem Frankreichs wurde von 1853 bis 1862 durch 32 kaiserliche Dekrete abgetragen, die dann 1863 in lässiger Beobachtung

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[1] „Une négociation officielle fut ouverte (zwischen der französischen und der englischen Regierung, nachdem Michel Chevalier mit Rich. Cobden die vorbereitenden Schritte getan hatte) au bout de peu de jours: elle fut conduite avec le plus grand mystére. Le 5 Janvier 1860 Napoleon III annonca ses intentions dans une lettreprogramme adressée au ministère d’Etat, M. Fould. Cette déclaration éclata comme un coup de foudre. Après les incidents de l’année qui venait de finir, on comptait qu'aucune modification du régime douanier ne serait tentée avant 1861. L'émotion fut générale. Néanmoins le traité fut signé le 23 Janvier.“ (Auguste Devers: La politique commerciale de la France depuis 1860. Schriften des Vereins für Sozialpolitik, LI, S. 136.) – Im Original mit *.