Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 329

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lasse vom Jahre 1830, 1831, 1840, 1844, 1845, 1846 wurden diese Diebstähle an arabischen Geschlechterländereien „gesetzlich“ begründet. Dieses Ansiedelungssystem führte aber in Wirklichkeit gar nicht zur Kolonisation, es hat bloß zügellose Spekulation und Wucher großgezogen. Die Araber verstanden in den meisten Fällen, die ihnen weggenommenen Ländereien zurückzukaufen, wobei sie freilich tief in Schulden gerieten. Der französische Steuerdruck wirkte nach derselben Richtung. Namentlich aber hat das Gesetz vom 16. Juni 1851, das alle Forsten zum Staatseigentum erklärte und so 2,4 Millionen Hektar halb Weide, halb Gestrüpp den Eingeborenen stahl, der Viehzucht die Existenzbasis entzogen. Unter dem Platzregen all dieser Gesetze, Ordonnanzen und Maßnahmen entstand in den Eigentumsverhältnissen des Landes eine unbeschreibliche Verwirrung. Zur Ausnutzung der herrschenden fieberhaften Bodenspekulation und in der Hoffnung auf baldige Zurückgewinnung des Bodens veräußerten viele Eingeborene ihre Grundstücke an Franzosen, wobei sie häufig an zwei und drei Käufer zugleich dasselbe Grundstück verkauften, das sich obendrein gar nicht als ihr Eigentum, sondern als unveräußerliches Geschlechtereigentum herausstellte. So glaubte eine Spekulantengesellschaft aus Rouen 20 000 Hektar gekauft zu haben, während sie im Resultat nur 1370 Hektar strittigen Gebietes ihr eigen nennen durfte. In einem anderen Falle stellte sich ein verkauftes Gebiet von 1230 Hektar nach der Aufteilung als 2 Hektar aus. Es folgte eine unendliche Reihe von Prozessen, wobei die französischen Gerichte prinzipiell alle Aufteilungen und Ansprüche der Käufer unterstützten. Unsicherheit der Verhältnisse, Spekulation, Wucher und Anarchie wurden allgemein. Aber der Plan der französischen Regierung, sich mitten in der arabischen Bevölkerung eine starke Stütze in einer französischen Kolonistenmasse zu schaffen, hat elend Schiffbruch gelitten. Deshalb nimmt die französische Politik unter dem Zweiten Kaiserreich eine andere Wendung: Die Regierung, die sich nach 30 Jahren hartnäckigen Leugnens des Gemeineigentums in ihrer europäischen Borniertheit eines Besseren hat belehren lassen müssen, erkannte endlich offiziell die Existenz des ungeteilten Geschlechtereigentums an, doch nur, um im gleichen Atem die Notwendigkeit seiner gewaltsamen Aufteilung zu proklamieren. Diesen Doppelsinn hat der Senatuskonsult vom 22. April 1863. „Die Regierung“, erklärte General Allard im Staatsrat, „verliert nicht aus dem Auge, daß das allgemeine Ziel ihrer Politik dies ist, den Einfluß der Geschlechtervorsteher zu schwächen und die Geschlechter aufzulösen. Auf diese Weise wird es die letzten Reste des Feudalismus (!) beseitigen, als dessen Verteidiger die Gegner der Regierungs-

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