Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 326

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worben wurden. Als Privateigentum gehörte jedem Mann nur ein Anzug und jeder Frau nur die Kleidungsstücke und die Schmucksachen, die sie als Brautgeschenk erhalten hatte. Alle kostbareren Gewänder aber und Juwelen galten als ungeteiltes Familieneigentum und durften von einzelnen nur mit Einwilligung aller gebraucht werden. War die Familie nicht zu zahlreich, so nahm sie ihre Mahlzeiten an einem gemeinsamen Tische ein, wobei alle Frauen nach der Reihe kochten, die ältesten aber die Verteilung besorgten. War der Kreis der Personen zu groß, dann wurden allmonatlich die Nahrungsmittel vom Vorstand in rohem Zustand bei Beobachtung strenger Gleichheit unter die Einzelfamilien verteilt und von diesen zubereitet. Engste Bande der Solidarität, gegenseitiger Hilfe und Gleichheit umspannten diese Gemeinwesen, und die Patriarchen pflegten sterbend den Söhnen das treue Festhalten am Familienverband als letztes Vermächtnis ans Herz zu legen.[1]

Schon die türkische Herrschaft, die sich im 16. Jahrhundert in Algerien etablierte, hatte ernste Eingriffe in diese sozialen Verhältnisse gemacht. Freilich war es nur eine später von den Franzosen erfundene Fabel, daß die Türken sämtlichen Grund und Boden für den Fiskus konfisziert hätten. Diese wilde Phantasie, die nur den Europäern einfallen konnte, befand sich im Widerspruch mit der ganzen ökonomischen Grundlage des Islams und seiner Bekenner. Im Gegenteil, die Grundbesitzverhältnisse der Dorfgemeinden und der Großfamilien wurden von den Türken im allgemeinen nicht angetastet. Nur ein großer Teil unbebauter Ländereien wurde von ihnen als Staatsdomäne den Geschlechtern gestohlen und unter den türkischen Lokalverwaltern in Beyliks verwandelt, die zum Teil direkt von Staats wegen mit eingeborenen Arbeitskräften bewirtschaftet, zum Teil gegen Zins oder Naturalleistungen in Pacht gegeben wurden. Daneben benutzten die Türken jede Meuterei der unterworfenen Geschlechter und jede Verwirrung im Lande, um durch umfassende Landkonfiskationen die fiskalischen Besitzungen zu vergrößern und darauf Militärkolonien zu gründen oder die konfiszierten Güter öffentlich zu versteigern, wobei sie meist in die Hände von türkischen und anderen Wucherern gerieten. Um den Konfiskationen und dem Steuerdruck zu ent-

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[1] „Presque toujours, le père de famille en mourant recommande à ses descendants de vivre dans l’indivision, suivant l’exemple de leurs aieux: c’est là sa dernière exhortation et son vœu le plus cher.“ (A. Hanotaux et A. Letourneux: La Kabylie et les coutumes Kabyles, Bd. II: Droit civil, 1873, S. 468–473.) Die Verfasser bringen es übrigens fertig, die oben wiedergegebene frappante Schilderung des Großfamilienkommunismus mit der folgenden Sentenz einzuleiten „Dans la ruche laborieuse de la famille associée, tous sont réunis dans un but commun, tous travaillent dans un intérêt général; mais nui n’abdique sa liberté et ne renonce à ses droits héréditaires. Chez aucune nation on ne trouve de combinaison qui soit plus près de l’égalité et plus loin du communisme!“. – [Fußnote im Original]