Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 325

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Neben dem Martyrium Britisch-Indiens beansprucht in der kapitalistischen Kolonialwirtschaft die Geschichte der französischen Politik in Algerien einen Ehrenplatz. Als die Franzosen Algerien eroberten[1], herrschten unter der Masse der arabisch-kabylischen Bevölkerung die uralten sozialen und wirtschaftlichen Einrichtungen, die sich trotz der langen und bewegten Geschichte des Landes bis ins 19. Jahrhundert, ja zum Teil bis heute erhalten haben.

Mochte in den Städten, unter den Mauren und Juden, unter Kaufleuten, Handwerkern und Wucherern Privateigentum herrschen und auf dem flachen Lande bereits große Strecken von der türkischen Vasallenherrschaft her als staatliche Domänen usurpiert sein, immerhin gehörte noch fast die Hälfte des benutzten Landes in ungeteiltem Eigentum den arabisch-kabylischen Stämmen, und hier herrschten noch uralte, patriarchalische Sitten. Dasselbe Nomadenleben, nur dem oberflächlichen Blick unstet und regellos, in Wirklichkeit streng geregelt und höchst eintönig, führte wie seit jeher noch im 19. Jahrhundert viele arabische Geschlechter mit Männern, Weibern und Kindern, mit Herden und Zelten jeden Sommer an den von Meereswinden angefächelten kühleren Küstenteil Tell und jeden Winter wieder in die schützende Wärme der Wüste zurück. Jeder Stamm und jedes Geschlecht hatte seine bestimmten Wanderungsstrecken und bestimmte Sommer- und Winterstationen, wo sie ihre Zelte aufschlugen. Die ackerbautreibenden Araber besaßen das Land gleichfalls vielfach noch im Gemeineigentum der Geschlechter. Und ebenso patriarchalisch nach althergebrachten Regeln lebte die kabylische Großfamilie unter der Leitung ihrer gewählten Oberhäupter.

Die Hauswirtschaft dieses großen Familienkreises war ungeteilt von dem ältesten weiblichen Mitglied geleitet, jedoch gleichfalls auf Grund der Wahl der Familie, oder aber von den Frauen der Reihe nach. Die kabylische Großfamilie, die in dieser Organisation am Saum der afrikanischen Wüste ein eigentümliches Seitenstück zu der berühmten südslawischen „Zadruga“[2] darbot, war Eigentümerin nicht bloß des Grund und Bodens, sondern auch aller Werkzeuge, Waffen und Gelder, die zum Betrieb des Berufs aller Mitglieder erforderlich waren und von ihnen er-

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[1] Die koloniale Eroberung Algeriens, die am 5. Juli 1830 mit der Einnahme Algiers durch französische Truppen begann, stieß auf organisierten Widerstand des algerischen Volkes und konnte erst um die Jahrhundertwende abgeschlossen werden, obwohl bereits am 22. Juli 1834 Algerien zu französischem Besitz erklärt und ein Generalgouverneur eingesetzt worden war.

[2] Die Zadruga war eine Familiengenossenschaft aus mehreren Generationen mit gemeinsamem Besitz an Grund und Boden, Vermögen und Inventar bei den Südslawen bis Ende des 19. Jahrhunderts, der der Hausvater mit unbeschränkter Gewalt vorstand.