Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 260

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zes. Nur in einem Fall wäre dann auswärtiger Handel begreiflich: als Mittel, das natürliche Manko eines Landes an gewissen Produkten des Bodens und des Klimas durch Einfuhr von auswärts zu decken, nur als notgedrungene Einfuhr von Rohstoffen oder Nahrungsmitteln. Und in der Tat errichtet Bulgakow, indem er die These der Volkstümler direkt auf den Kopf stellt, eine Theorie des internationalen Handels der kapitalistischen Staaten, in dem die Einfuhr von Produkten der Landwirtschaft das grundlegende aktive Element, die industrielle Ausfuhr nur die notgedrungene Deckung jener Einfuhr darstellt. Der internationale Warenverkehr erscheint hier nicht im Wesen der Produktionsweise begründet, sondern in den Naturbedingungen der Länder – jedenfalls eine Theorie, die nicht von Marx, sondern von deutschen Gelehrten der bürgerlichen Nationalökonomie geliehen ist. Wie Struve von Wagner und Schäffle sein Schema der drei Weltreiche, so übernimmt Bulgakow von dem seligen List die Einteilung der Staaten in Kategorien nach dem „Agrikulturstand“ und dem „Agrikulturmanufakturstand“, die er mit dem Fortschritt der Zeiten in „Manufakturstand“ und „Agrikulturmanufakturstand“ modifiziert. Die erstere Kategorie ist von Natur mit einem Mangel eigener Rohstoffe und Nahrungsmittel gestraft und deshalb auf den auswärtigen Handel angewiesen, die letztere Kategorie ist von der Natur mit allem versehen und kann auf den auswärtigen Handel pfeif en. Typus der ersteren ist England, der zweiten – die Vereinigten Staaten. Für England würde die Abschaffung des auswärtigen Handels ökonomische Agonie und Tod bedeuten, für die Vereinigten Staaten nur eine vorübergehende Krise, nach der völlige Genesung gesichert wäre: „Hier kann sich die Produktion auf der Basis des inneren Marktes schrankenlos erweitern.“[1] Diese Theorie, die ein ehrwürdiges Erbstück der deutschen Nationalökonomie bis auf den heutigen Tag bildet, hat offenbar von den Zusammenhängen der kapitalistischen Weltwirtschaft keinen Dunst und führt den heutigen Weltverkehr ungefähr auf die Grundlagen aus den Zeiten der Phönizier zurück. Doziert doch z. B. auch Professor Bücher: „Es ist ein Irrtum, wenn man aus der im liberalistischen Zeitalter erfolgten Erleichterung des internationalen Verkehrs schließen zu dürfen meint, die Periode der Volkswirtschaft gehe zur Neige und mache der Periode der Weltwirtschaft Platz ... Gewiß sehen wir heute in Europa eine Reihe von Staaten, welche der nationalen Selbständigkeit in ihrer Güterversorgung insofern entbehren, als sie erhebliche Mengen ihrer Nahrungs- und Genußmittel aus dem Auslande zu beziehen genötigt sind, während ihre industrielle Produktionstätigkeit

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[1] Bulgakow: I. c., S. 199.