Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 228

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lichkeiten der russischen Agrarverfassung basierte, war nach dem Fiasko seines äußersten revolutionären Ausdrucks: der terroristischen Partei der „Narodnaja Wolja“[1], politisch bankrott. Andererseits waren die ersten Schriften Georg Plechanows, die den marxistischen Gedankengängen in Rußland Eingang verschaffen sollten, erst 1883 und 1885 erschienen und etwa für ein Jahrzehnt noch von scheinbar geringem Einfluß geblieben. Während der 80er Jahre und bis in die 90er Jahre hinein war das geistige Leben der russischen Intelligenz, namentlich der oppositionell gesinnten, sozialistischen Intelligenz, von einem seltsamen Gemisch „bodenständiger“ Überbleibsel der. Volkstümelei mit aufgegriffenen Elementen der Marxschen Theorie beherrscht, ein Gemisch, dessen hervorstechenden Zug die Skepsis in bezug auf die Entwicklungsmöglichkeiten des Kapitalismus in Rußland bildete.

Die Frage, ob Rußland die kapitalistische Entwicklung nach dem Beispiel des westlichen Europa durchmachen soll, beschäftigte sehr früh die russische Intelligenz. Diese sah auch in Westeuropa vorerst nur die Schattenseiten des Kapitalismus, seine zersetzende Wirkung auf die hergebrachten patriarchalischen Produktionsformen und auf den Wohlstand und die Sicherheit der Existenz breiter Volksmassen. Andererseits erschien das russische bäuerliche Gemeineigentum an Grund und Boden, die berühmte „Obschtschina“[2], als ein möglicher Ausgangspunkt für eine höhere soziale Entwicklung in Rußland, das unter Umgehung des kapitalistischen Stadiums mit seinen Leiden auf einem kürzeren und weniger qualvollen Wege als die westeuropäischen Länder in das gelobte Land des Sozialismus gelangen würde. Sollte man nun diese glückliche Ausnahmelage, diese einzigartige geschichtliche Gelegenheit verscherzen, indem man durch eine forcierte Verpflanzung der kapitalistischen Produktion nach Rußland unter staatlicher Beihilfe die bäuerlichen Besitz- und Produktionsformen vernichtete, der Proletarisierung, dem Elend und der Unsicherheit der Existenz der arbeitenden Massen Tür und Tor öffnete?

Dieses Grundproblem beherrschte das geistige Leben der russischen Intelligenz seit der Bauernreform[3], ja schon früher, seit Herzen und nament-

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[1] Die .,Narodnaja Wolja“ (Volkswille) war 1879 aus der Volkstümlerbeweguag hervorgegangen. Ihr Ziel, Sturz der Selbstherrschaft, versuchte sie durch die Taktik der Verschwörung und des individuellen Terrors zu erreichen. Da sie keine feste Stütze in den Massen hatte, wurde sie in den achtziger Jahren vom Zarismus zerschlagen.

[2] Die Obschtschina, die bäuerliche Dorfgemeinde, war mit der Herausbildung feudaler Produktionsverhältnisse entstanden. Sie war durch gemeinsamen Bodenbesitz und periodische Umteilung des Anteillandes gekennzeichnet. Mit der Bauernreform von 1861 in Rußland wurden diese feudalen Dorfgemeinschaften aus Wirtschaftsgemeinden zu politischen Verwaltungsgemeinden.

[3] Am 19. Februar 1861 wurde durch die „Allgemeine Verordnung über die Bauern, die aus der Leibeigenschaft entlassen werden“, und weitere Verordnungen die Leibeigenschaft In Rußland aufgehoben. Folgendes wurde durch sie geregelt: die persönliche Befreiung der Bauern, ihre Bodenanteile und Verpflichtungen, der Loskauf von Grund und Boden sowie die Organisation der bäuerlichen Verwaltung. In ihrer Mehrheit blieben die Bauern durch „Ablösungszahlungen“ und „Abarbeit“ in halbfeudaler Abhängigkeit von den Gutsbesitzern, aber dennoch wurde der kapitalistischen Entwicklung in Rußland der Weg geebnet.