Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 227

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dieselbe Zeit in Rußland aus. Hier stellen die siebziger und achtziger Jahre in jeder Hinsicht eine Übergangszeit, eine Periode der inneren Krise mit all ihren Qualen dar. Die Großindustrie feierte erst eigentlich ihren Einzug unter der Einwirkung der hochschutzzöllnerischen Periode. In der nun einsetzenden forcierten Förderung des Kapitalismus durch die absolutistische Regierung bildete namentlich die Einführung des Goldzolls an der westlichen Grenze im Jahre 1877[1] einen Markstein. Die „primitive Akkumulation“ des Kapitals gedieh in Rußland unter der Begünstigung allerlei staatlicher Subsidien, Garantien, Prämien und Staatsbestellungen herrlich und erntete Profite, die im Westen um jene Zeit bereits ins Reich der Fabel gehörten. Die inneren Zustände Rußlands boten dabei ein nichts weniger als anziehendes und hoffnungsvolles Bild dar. Auf dem platten Lande zeitigte der Niedergang und die Zersetzung der bäuerlichen Wirtschaft unter dem Druck der fiskalischen Auspowerung und der Geldwirtschaft grauenvolle Zustände, periodische Hungersnöte und periodische Bauernunruhen. Andererseits war das Fabrikproletariat in den Städten sozial und geistig noch nicht zu einer modernen Arbeiterklasse konsolidiert. Namentlich in dem größten industriellen Zentralbezirk Moskau–Wladimir, dem wichtigsten Sitz der russischen Textilindustrie, war es noch zum großen Teil mit der Landwirtschaft verwachsen und halb bäuerisch. Dementsprechend primitive Formen der Ausbeutung riefen primitive Äußerungen der Abwehr auf den Plan. Anfangs der 80er Jahre sollten erst die spontanen Fabriktumulte im Moskauer Bezirk, bei denen Maschinen zertrümmert wurden[2], den Anstoß zu den ersten Grundlagen einer Fabrikgesetzgebung im Zarenreiche geben.

Wies so die wirtschaftliche Seite des öffentlichen Lebens in Rußland auf jedem Schritt schreiende Dissonanzen einer Übergangsperiode auf, so entsprach ihr auch eine Krise im geistigen Leben. Der „volkstümlerische“, bodenständige russische Sozialismus[3], der theoretisch auf den Eigentüm-

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[1] Mit der Erhebung der Zölle in Gold ab 1877, die damit um das 1,5fache erhöht wurden, strebte die zaristische Regierung sowohl die Förderung der einheimischen Industrie wie die Erhöhung der Staatseinnahmen an und kehrte damit zur Schutzzollpolitik zurück.

[2] Die spontanen Fabriktumulte in den achtziger Jahren im Moskauer Bezirk richteten sich vor allem gegen die Verschärfung und Gesetzlosigkeit des Strafgeldsystems. Sie gipfelten 1885 in dem Morosow-Streik in Orechowo-Sujewo, an dem 11 000 Streikende teilnahmen und der erstmals organisierten Charakter trug. Unter diesem Druck mußte die zaristische Regierung mit dem Gesetz vom 3. Junl 1886 das Strafensystem regeln.

[3] Der „volkstümlerische“ russische Sozialismus war eine nach 1861 entstandene kleinbürgerlich-revolutionäre Strömung. Die Volkstümler begriffen nicht die Gesetzmäßigkeit der Entwicklung des Kapitalismus in Rußland. Sie betrachteten die vorhandenen kapitalistischen Elemente als rein zufällig. Ihrer Auffassung nach war die bäuerliche Dorfgemeinschaft die Keimzelle des Sozialismus und die Bauernschaft die revolutionäre Hauptkraft.