Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 226

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bis um die Mitte der 90er und ihr Schauplatz Rußland. Die kapitalistische Entwicklung hatte bereits in Westeuropa ihren Reifegrad erreicht. Die einstige rosige Auffassung der Klassiker Smith–Ricardo mitten in der in Knospen stehenden bürgerlichen Gesellschaft war längst zerronnen. Auch der interessierte Optimismus der vulgär-manchesterlichen Harmonielehre war unter dem niederschmetternden Eindruck des Weltkrachs der 70er Jahre[1] sowie unter den wuchtigen Schlägen des seit den 60er Jahren in allen kapitalistischen Ländern entbrannten heftigen Klassenkampfes[2] verstummt. Selbst von den sozialreformerisch geflickten Harmonien, die sich namentlich in Deutschland noch Anfang der 80er Jahre breitgemacht hatten, war sehr bald nur der Katzenjammer geblieben, die 12jährige Prüfungszeit des Ausnahmegesetzes gegen die Sozialdemokratie[3] hatte eine grausame Ernüchterung gebracht, alle Harmonieschleier endgültig zerrissen und die nackte Wirklichkeit der kapitalistischen Gegensätze in ihrer ganzen Schroffheit enthüllt. Optimismus war seitdem nur noch im Lager der aufstrebenden Arbeiterklasse und ihrer theoretischen Wortführer möglich. Ein Optimismus freilich nicht in bezug auf das natürliche oder künstlich hergestellte innere Gleichgewicht der kapitalistischen Wirtschaft und ihre ewige Dauer, sondern in dem Sinne, daß die von ihr mächtig geförderte Entfaltung der Produktivkräfte gerade durch ihre inneren Widersprüche einen ausgezeichneten historischen Boden für die fortschrittliche Entwicklung der Gesellschaft zu neuen ökonomischen und sozialen Formen biete. Die negative, herabdrückende Tendenz der ersten Periode des Kapitalismus, die einst Sismondi allein vor den Augen hatte und die noch Rodbertus in den 40er und 50er Jahren sah, war jetzt aufgewogen durch die emporhebende Tendenz: das hoffnungsvolle und siegreiche Aufstreben der Arbeiterklasse in ihrer gewerkschaftlichen und politischen Aktion.

So war das Milieu in Westeuropa beschaffen. Anders sah es freilich um

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[1] In den siebziger Jahren hatte sich eine Weltwirtschaftskrise herausgebildet, deren Höhepunkt 1873 erreicht wurde und von der die USA, Deutschland und Österreich–Ungarn am stärksten erfaßt wurden. Diese Krise beschleunigte die Konzentration und Zentralisation der Produktion und des Kapitals, und es setzte der Verfall des englischen Industriemonopols ein.

[2] In den sechziger Jahren verstärkte sich besonders in England, Frankreich und Deutschland der Klassenkampf der Arbeiter. Die schnelle Industrialisierung und die Intensivierung der Ausbeutungs-und Produktionsmethoden führten zum Wachstum und zur Konzentration des Proletariats und hatten verschärfte ökonomische und politische Auseinandersetzungen mit der Bourgeoisie zur Folge.

[3] Das Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie war von Otto Fürst von Bismarck mit Unterstützung der Mehrheit des deutschen Reichstages am 19. Oktober 1878 durchgesetzt worden und trat am 21. Oktober 1878 in Kraft. Es stellte die Sozialdemokratie außerhalb des Gesetzes. Der zunehmende Druck der Arbeiterklasse sowie das Scheitern der bonapartistischen Politik Bismarcks erzwangen am 1. Oktober 1890 die Aufhebung dieses Ausnahmegesetzes.