Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 198

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-5/seite/198

beitskraft, die schon fünf Sechsteilen der Nation keine Erleichterung zu gewähren vermochte, wird periodisch auch noch der Schrecken des letzten Sechsteils der Nation und damit der ganzen Gesellschaft.“ „Welche Widersprüche also auf dem wirtschaftlichen Gebiete insbesondere! Und welche Widersprüche auf dem gesellschaftlichen Gebiete überhaupt! Der gesellschaftliche Reichtum nimmt zu, und die Begleiterin dieser Zunahme ist die Zunahme der Armut. – Die Schöpfungskraft der Produktivmittel wird gesteigert, und deren Einstellung ist davon die Folge. – Der gesellschaftliche Zustand verlangt die Erhebung der materiellen Lage der arbeitenden Klassen zu gleicherer Höhe mit ihrer politischen, und der wirtschaftliche Zustand antwortet mit deren tieferer Erniedrigung. – Die Gesellschaft bedarf des ungehinderten Aufschwungs ihres Reichtums, und die heutigen Leiter der Produktion müssen denselben hemmen, um nicht der Armut Vorschub zu leisten. – Nur eines ist in Harmonie! Der Verkehrtheit der Zustände entspricht die Verkehrtheit des herrschenden Teils der Gesellschaft, die Verkehrtheit, den Grund dieser Übel da zu suchen, wo er nicht liegt. Jener Egoismus, der sich nur zu oft in das Gewand der Moral hüllt, klagt als die Ursache des Pauperismus die Untugenden der Arbeiter an. Ihrer angeblichen Ungenügsamkeit und Unwirtschaftlichkeit bürdet er auf, was übermächtige Tatsachen an ihnen verbrechen, und wo selbst er seine Augen nicht vor ihrer Schuldlosigkeit verschließen kann, erhebt er die ‚Notwendigkeit der Armut‘ zur Theorie. Ohne Unterlaß ruft er den Arbeitern nur ora et labora zu, macht ihnen Enthaltsamkeit und Sparsamkeit zur Pflicht und fügt höchstens die Rechtsverletzung von Zwangssparanstalten der Not der Arbeiter hinzu. Er sieht nicht, daß eine blinde Verkehrsgewalt das Gebet zur Arbeit in einen Fluch über erzwungene Arbeitslosigkeit verwandelt, daß ... Sparsamkeit eine Unmöglichkeit oder eine Grausamkeit ist und daß endlich die Moral stets wirkungslos in dem Munde derer blieb, von denen der Dichter weiß, ‚sie trinken heimlich Wein und predigen öffentlich Wasser‘.“[1]

Konnten solche tapferen Worte an sich – dreißig Jahre nach Sismondi und Owen, zwanzig Jahre nach den Anklagen der englischen Sozialisten aus der Ricardoschule, endlich nach der Chartistenbewegung, nach der Junischlacht und, last not least, nach dem Erscheinen des Kommunistischen Manifests – keinen Anspruch auf bahnbrechende Bedeutung erheben, so kam es jetzt um so mehr auf die wissenschaftliche Begründung dieser Anklagen an. Rodbertus gibt hier ein ganzes System, das auf die folgenden knappen Sätze zurückgeführt werden kann.

Nächste Seite »



[1] Carl Rodbertus-Jagetzow: Schriften, Berlin 1899, Bd. III, S. 172–174 u. 184. – [Fußnote im Original]