Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 189

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Say–Ricardo–MacCulloch ausgefochten wurde. Rodbertus hatte bereits in seiner frühesten Schrift jenen Gedanken ausgesprochen, daß in der heutigen Gesellschaft bei der steigenden Produktivität der Arbeit der Arbeitslohn eine immer kleinere Quote des Nationalprodukts wird – ein Gedanke, den er als den seinigen „in Anspruch nahm“, den er aber auch seitdem und bis zu seinem Tode, also während dreier Jahrzehnte, immer nur zu wiederholen und zu variieren verstand. In dieser fallenden Lohnquote erblickt Rodbertus die gemeinsame Wurzel aller Übel der heutigen Wirtschaft, namentlich des Pauperismus und der Krisen, die er zusammen als „die soziale Frage der Gegenwart“ bezeichnet.

v. Kirchmann ist mit dieser Erklärung nicht einverstanden. Er führt den Pauperismus auf die Wirkungen der steigenden Grundrente zurück, die Krisen aber auf den Mangel an Absatzwegen. Von diesem behauptet er namentlich, daß „der größte Teil der sozialen Übel nicht in der mangelnden Produktion, sondern in dem mangelnden Absatze der Produkte liege; daß ein Land, je mehr es zu produzieren vermöge, je mehr es Mittel habe, alle Bedürfnisse zu befriedigen, desto mehr der Gefahr des Elends und Mangels ausgesetzt sei“. Auch die Arbeiterfrage ist hier mit begriffen, denn „das berüchtigte Recht auf Arbeit löse sich am Ende auf in eine Frage der Absatzwege“. „Man sieht“, folgert v. Kirchmann, „daß die soziale Frage beinahe identisch ist mit der Frage nach den Absatzwegen. Selbst die Übel der vielgeschmähten Konkurrenz werden mit sicheren Absatzwegen verschwinden; es wird nur das Gute an ihr bleiben; es wird der Wetteifer bleiben, gute und billige Waren zu liefern, aber es wird der Kampf auf Tod und Leben verschwinden, der nur in den für alle ungenügenden Absatzwegen seinen Grund hat.“[1]

Der Unterschied zwischen dem Gesichtswinkel Rodbertus’ und v. Kirchmanns springt in die Augen. Rodbertus sieht die Wurzel des Übels in einer fehlerhaften Verteilung des Nationalprodukts, v. Kirchmann in den Marktschranken der kapitalistischen Produktion. Bei allem Konfusen in den Ausführungen v. Kirchmanns, namentlich in seiner idyllischen Vorstellung von einer auf löblichen Wetteifer um die beste und billigste Ware reduzierten kapitalistischen Konkurrenz sowie in der Auflösung des „berüchtigten Rechts auf Arbeit“ in die Frage der Absatzmärkte, zeigt er doch zum Teil mehr Verständnis für den wunden Punkt der kapitalistischen Produktion: ihre Marktschranken, als Rodbertus, der an der Frage der

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[1] Die Kirchmannsche Beweisführung ist bei Rodbertus sehr ausführlich wörtlich zitiert. Ein vollständiges Exemplar der „Demokratischen Blätter“ mit dem Originalaufsatz ist nach der Versicherung der Herausgeber Rodbertus’ nicht zu erlangen. – Im Original mit *.