Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 175

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einer Menge Produkte entbehren, die als notwendig betrachtet werden, ich will nicht sagen bei reichen Familien, aber doch in einem bescheidenen Haushalt? Ich bewohne augenblicklich ein Dorf, das in einem der reichsten Kantone Frankreichs liegt. Und doch gibt es dort auf zwanzig Häuser neunzehn, wo ich beim Eintreten nur eine grobe Nahrung bemerke und nichts, was zum Wohlbefinden der Familie gehört, nichts von den Dingen, die der Engländer ‚komfortabel‘ nennt“ usw.[1]

Man bewundere die Stirn des ausgezeichneten Say. Er war es, der behauptete, in der kapitalistischen Wirtschaft könne es keine Schwierigkeiten, keinen Überschuß, keine Krisen, keine Not geben, denn die Waren kaufen einander, und man brauche nur immer mehr zu produzieren, um alles in Wohlgefallen aufzulösen. In seiner Hand ist dieser Satz zum Dogma der vulgärökonomischen Harmonielehre geworden. Sismondi hatte dagegen scharfen Protest erhoben und die Haltlosigkeit dieser Ansicht dargetan; er hatte darauf hingewiesen, daß nicht jede beliebige Warenmenge absetzbar sei, sondern daß das jeweilige Einkommen der Gesellschaft (v + m) die äußerste Grenze darstelle, bis zu der die Warenmenge realisiert werden könne. Da aber die Löhne der Arbeiter auf das nackte Existenzminimum herabgedrückt werden, die Verbrauchsfähigkeit der Kapitalistenklasse auch ihre natürlichen Grenzen habe, so führe die Ausdehnung der Produktion zu Marktstockungen, Krisen und einem noch größeren Elend für die Volksmassen. Nun kommt Say und repliziert mit virtuos gespielter Naivität: Ja, wenn Sie behaupten, daß von den Produkten überhaupt zuviel produziert werden könne, wie kommt es, daß es so viele Darbende, so viele Nackte und Hungrige in unserer Gesellschaft gibt? Erkläre mir, Graf Oerindur, diesen Zwiespalt der Natur.[2] Say, in dessen eigener Position der Hauptkniff darin besteht, daß er von der Geldzirkulation absieht und mit einem unmittelbaren Warenaustausch operiert, unterstellt jetzt seinem Opponenten, daß dieser von einem Überfluß der Produkte nicht im Verhältnis zu den Kaufmitteln der Gesellschaft, sondern zu ihren wirklichen Bedürfnissen spräche! Dabei hatte Sismondi gerade über diesen Kardinalpunkt seiner Deduktionen wahrhaft keinen Zweifel übriggelassen. Sagt er doch ausdrücklich im Buch II, Kapitel VI seiner „Nouveaux principes“: „Selbst dann, wenn die Gesellschaft eine sehr große Anzahl schlecht genährter, schlecht gekleideter, schlecht behauster Personen zählt, begehrt sie nur das, was sie kaufen kann, aber sie kann nur mit ihrem Einkommen kaufen.“

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[1] Revue encyclopédique, Bd. XXIII, Juli 1824, S. 20. – Im Original mit *.

[2] Siehe Adolf Müllner: Die Schuld. Trauerspiel in vier Akten, Leipzig 1817.