Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 764

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streiks von „gelben“, regierungsfrommen Gewerkschaften ausgegangen. Hingegen in England, wo die Gewerkschaften sich vom Sozialismus fernhalten, bemüht sich die Bourgeoisie nicht, selbst in die proletarischen Schichten den Gedanken der Koalition zu tragen.

Die Gewerkschaft spielt also eine unentbehrliche organische Rolle bei dem modernen Lohnsystem. Erst durch die Gewerkschaft wird nämlich die Arbeitskraft als Ware in die Lage versetzt, zu ihrem Wert verkauft zu werden. Das kapitalistische Warengesetz wird in bezug auf die Arbeitskraft durch die Gewerkschaften nicht aufgehoben, wie Lassalle irrtümlich annahm, sondern umgekehrt durch sie erst verwirklicht. Der systematische Schleuderpreis, zu dem der Kapitalist die Arbeitskraft zu kaufen bestrebt ist, wird dank der gewerkschaftlichen Aktion zum mehr oder weniger reellen Preis gehoben.

Diese ihre Funktion üben die Gewerkschaften jedoch mitten unter dem Druck der mechanischen Gesetze der kapitalistischen Produktion aus, nämlich erstens der ständigen Reservearmee nichtbeschäftigter Arbeiter und zweitens des beständigen Wechsels des Hoch- und Niedergangs der Konjunktur. Beide Gesetze pressen die Wirkung der Gewerkschaften in unüberwindliche Schranken ein. Der beständige Wechsel der industriellen Konjunktur zwingt die Gewerkschaften dazu, bei jedem Niedergang die alten Errungenschaften vor neuen Angriffen des Kapitals zu verteidigen und bei jedem Hochgang erst durch Kampf den herabgedrückten Lohnstand auf das der günstigen Situation entsprechende Niveau wieder zu heben. Die Gewerkschaften werden somit stets in die Defensive verwiesen. Die industrielle Reservearmee der Arbeitslosen aber schränkt die Wirkung der Gewerkschaften sozusagen räumlich ein: Der Organisation und ihrer Einwirkung ist nur zugänglich die obere Schicht der besser situierten Industriearbeiter, bei denen die Arbeitslosigkeit nur eine periodische und nach dem Marxschen Ausdruck „fließende“ ist. Dagegen die tief erstehende Schicht der ständig vom flachen Lande nach der Stadt strömenden ungelernten Ackerbauproletarier sowie aller halbländlichen unregelmäßigen Berufe, wie Ziegelfabrikation, Erdarbeiten, eignet sich schon durch die räumlichen und zeitlichen Bedingungen ihrer Beschäftigungsart sowie durch das soziale Milieu bedeutend weniger zur gewerkschaftlichen Organisation. Endlich die breiten unteren Schichten der Reservearmee: die Arbeitslosen mit unregelmäßiger Beschäftigung, die Hausindustrie, weiter die zufällig beschäftigten Armen entziehen sich ganz der Organisation. Im allgemeinen: Je größer die Not und der Druck in einer proletarischen Schicht, um so geringer die Möglichkeit der gewerkschaftlichen

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