Lohn wiederum erscheint in der doppelten Gestalt: einmal als eine Geldsumme, das heißt als nomineller Lohn, zweitens als eine Summe Existenzmittel, die der Arbeiter für dieses Geld erwerben kann, das heißt als reeller Lohn. Der Geldlohn der Arbeiter kann konstant bleiben oder auch steigen, und die Lebenshaltung, das heißt der reelle Lohn, kann dabei sinken. Der reelle Lohn hat nun die ständige Tendenz, auf das absolute Minimum, auf das physische Existenzminimum zu sinken, das heißt, es besteht die ständige Tendenz des Kapitals, die Arbeitskraft unter ihrem Werte zu bezahlen. Ein Gegengewicht wird dieser Tendenz des Kapitals erst durch die Arbeiterorganisation geschaffen. Die Hauptfunktion der Gewerkschaften besteht darin, daß sie durch die Erhöhung der Bedürfnisse der Arbeiter, durch ihre sittliche Hebung, an Stelle des physischen Existenzminimums erst das kulturelle gesellschaftliche Existenzminimum, das heißt eine bestimmte kulturelle Lebenshaltung der Arbeiter schaffen, unter welche die Löhne nicht herabgehen können, ahne sofort einen Kampf der Koalition, eine Abwehr hervorzurufen. Darin liegt namentlich auch die große ökonomische Bedeutung der Sozialdemokratie, daß sie durch die geistige und politische Aufrüttelung der breiten Massen der Arbeiter ihr kulturelles Niveau und dadurch ihre ökonomischen Bedürfnisse erhöht. Indem zum Beispiel das Abonnieren einer Zeitung, das Kaufen von Broschüren zu Lebensgewohnheiten des Arbeiters werden, erhöht sich dem genau entsprechend seine wirtschaftliche Lebenshaltung und infolgedessen die Löhne. Die Wirkung der Sozialdemokratie in dieser Hinsicht ist von doppelter Tragweite, insofern die Gewerkschaften eines gegebenen Landes mit der Sozialdemokratie eine offene Allianz unterhalten, weil alsdann die Gegnerschaft zur Sozialdemokratie auch die bürgerlichen Schichten zur Gründung von Konkurrenzgewerkschaften treibt, die ihrerseits die erzieherische Wirkung der Organisation und die Hebung des Kulturniveaus in weitere Kreise des Proletariats tragen. So sehen wir, daß in Deutschland außer den freien Gewerkschaften, die mit der Sozialdemokratie liiert sind, zahlreiche christliche, katholische und freisinnige Gewerkvereine wirken. Desgleichen werden in Frankreich zur Bekämpfung der sozialistischen Gewerkschaften sogenannte gelbe Gewerkschaften[1] gegründet, in Rußland sind die heftigsten Ausbrüche der jetzigen revolutionären Massen-
[1] Die Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich entstandenen sogenannten gelben Gewerkschaften waren von den Unternehmern ausgehaltene Streikbrecherorganisationen. Die Bezeichnung „Gelbe” stammt vermutlich daher, daß im Juni 1899 in Montceau-les-Mines die Streikbrecher die von kämpfenden französischen Arbeitern zertrümmerten Fenster ihres Versammlungshauses mit gelbem Papier verklebten. Die gelb blühende Ginsterblüte trugen die Mitglieder und ihre Frauen als Vereinsabzeichen.